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westliches Land geworden, und dabei wird es nach der Vereinigung in vollem
Umfang bleiben“.
Das stellt vor allem, um das wegen der besonderen historischen Hypotheken
herauszugreifen, das deutsche Verhältnis zu dem hier in Berlin so nahen Polen
auf eine geschichtlich völlig neue Basis. Zum erstenmal hat Polen ein ganz und
gar westliches Deutschland zu seinem Nachbarn, ein Deutschland, das keine
Ambitionen auf eine Hegemonie in Mitteleuropa hegt und sich auch keine Brük-
kenfunktion zuschreibt, auf die andere aus Gründen ihres europäischen Selbst-
bewußtseins keinen Wert legen.
Auch die geistig-politischen Abgrenzungen zwischen West-, Mittel- und Osteu-
ropa erscheinen heute eingeebnet. Noch nie in den 200 Jahren seit der Französi-
schen Revolution, so scheint mir, waren die Völker Europas vom Atlantik bis
zum Ural so geeint in der Überzeugung, daß ihr Gemeinsames in der politischen
Kultur begründet liegt, welche die Idee der Menschenrechte, den freiheitlich-
demokratischen Verfassungs- und Rechtsstaat hervorgebracht hat.
Ob wir gesamteuropäisch das Glück dieser historischen Stunde nach einem Jahr-
hundert der Katastrophen, Massenirrtümer und Staatsverbrechen werden halten
können, wage ich nicht zu sagen. Ich hoffe darauf und möchte es uns allen, liebe
Gäste aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa, inständig und von Herzen wünschen.
Mit diesem Wunsch und mit dem Blick voraus eröffne ich diese Sitzung.
(Beifall)
Bevor ich dem ersten Redner das Wort erteile, möchte ich ihn ganz kurz vor-
stellen. Geboren wurde er 1938 in Pardubice; er studierte Philosophie und Ge-
schichte an der Karlsuniversität in Prag; wurde 1868 Redakteur einer Wochen-
zeitung; erstmals angeklagt auf Grund der Teilpublikation des „Mimner“; Be-
rufsverbot; Angestellter in verschiedenen Baufirmen; 1977 Mitunterzeichner der
Charta 77; 1978 inhaftiert; 1980 Annahme einer Einladung in die USA; Ausbür-
gerung während der Rückreise; Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland;
1983 Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft, dann freier Schriftsteller in der
Bundesrepublik; während der „sanften Revolution“ Rückkehr nach Prag und
Teilnahme am öffentlichen Leben des Landes; 1990 Mitglied des Deutschen
PEN-Clubs; 1990 bis 1992 Botschafter der „ČSFR in der Bundesrepublik
Deutschland; Botschafter der Tschechischen Republik; 1993 Mitglied der Deut-
schen Akademie für Sprache und Dichtung; 1997 Minister für Schulwesen, Ju-
gend und Sport der Tschechischen Republik. Herr Botschafter und Minister a.
D., Sie haben das Wort.
Jirí Gruša: Sehr verehrter Herr Vorsitzender! Verehrte Gäste, Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Freunde! Die Diktatur und ihre Folgen und die Aufarbeitung
der Vergangenheit Mittel-, Ost- und Südosteuropas – unser und mein Thema –
beschäftigen mich immer mehr. Mit Recht redet der heutige Gastgeber über Her-
ausforderungen und Perspektiven in einem Atemzug. Er hat auch Betrachtungen
und Analysen geliefert. Wenn die anderen genauso fundiert und präzise sind wie
diejenigen, die meine Republik betreffen – hier kenne ich mich ein bißchen aus –,
so haben wir einen festen Boden für unsere Debatte.
Diesen festen Boden brauchen wir. Ich weiß zwar nicht, wie Ihnen, den anderen,
zumute ist; für meinen Teil gebe ich jedoch – beinahe ungern – zu: Mit der Zeit,
die seit dem Mauerfall dahinfloß, werde ich im Angesicht der Vergangenheit
immer unsicherer–als ob sie durch die Erhellungen noch unheimlicher, noch
unwirklicher würde.
Meine Damen und Herren, mein erstes Bedenken: All die eifrig gefertigten Re-
konstruktionen des Gewesenen sind und können nichts anderes sein als Zweck-
bilder, die vor allem einem Zukunftskonstrukt dienen. Heißt das also nicht, die
Unwirklichkeit der Vergangenheit drückt sich in unserem Unbehagen aus, mit
dem wir der Jetztzeit begegnen?
Vorläufige Grundlage jeder Arbeit an der Vergangenheit – und es geht um eine
harte Arbeit – sollte also methodische Skepsis sein. Wir Menschen sind einfach
prinzipiell unfähig, historische Ereignisketten in ihrem fundamentalen Zusam-
menhang zu entziffern, zu rekonstruieren. Folglich sollte bei jeder unserer Aus-
sagen der Vorbehalt geäußert werden, daß die Ware, die wir liefern, nicht das
Wahre an sich ist, sondern immer nur das – hoffentlich – Wahrscheinlichere.
Darum werde ich ab und zu darüber verlegen, daß ungeachtet der Tatsache, daß
der Mensch nie zweckfrei erinnert, in unseren postkommunistischen Gefilden
der gegenwärtige Zweck oder – noch besser gesagt – die Gegenwärtigkeit dieses
Zweckes kaum untersucht wird.
Die semidemokratischen Gesellschaften, in denen wir leben, neigen noch immer
dazu, kollektivistische Rekonstruktionen der Vergangenheit zu betreiben. Ein
gutes Image der Völker wird angestrebt. Das schlechte Bild von gestern soll
durch ein besseres Gruppenfoto von heute ersetzt werden. In der komplexen, ali-
nearen, multikausalen Welt von heute wird neue, oft lineare, monokausale Iden-
tität gepredigt, die von einer neuen Erfassung der Vergangenheit abhängen soll.
Gemischte Gesellschaftsstrukturen, hybride Gestalten, geboren aus der Implo-
sion der Diktatur, haben schwer daran zu kauen, etwas anderes anzubieten als
moralisierende Sonntagsappelle, gepaart mit der Unfähigkeit zu einer All-
tagspraxis der einfachsten Bürgermoral. Dabei ist, je länger ich den Prozeß mit-
erlebe und beobachte, kaum zu übersehen, daß die Vergangenheitsbewältigung
und -aufarbeitung die Aufarbeitung und Bewältigung der Gegenwart bleibt: die
wirtschaftliche, kulturelle und politische Aufgabe von heute. Nur auf der Basis
einer halbwegs funktionierenden politischen Pluralität ist eine Vergangenheit zu
haben, die die Zukunft nicht raubt.
Es geht also um eine lange, lange Arbeit an der Gegenwart und für die Gegen-
wart postkommunistischer Gesellschaften. Irgendwie müssen wir aus den totali-
tären Identitätsmustern heraus. Irgendwann müssen wir die eingeübten Mecha-
nismen unserer kollektiven Mnemotechnik – darum geht es bei der Vergangen-
heitsbewältigung – verfeinern und präziser machen, und dies alles Hand in Hand
mit der Entschärfung unseres Zukunftsbegriffes.