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Heute, habe ich den Eindruck, können wir mit dieser Enttäuschung leben. Wir
erleben da doch etwas ganz Normales und Notwendiges. Fast ist es so wie in
einer Beziehung, in der schließlich auch der Ehealltag erst die Grundlage für
eine dauerhafte Gemeinschaft darstellt. Darum, meine sehr verehrten Damen
und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es hilfreich und notwendig,
wenn wir uns von Fachleuten erklären lassen, was da eigentlich mit uns vor-
geht, was wir bereits bewältigt haben und welche Wegstrecken wir noch zu
gehen haben werden.
Ich wünsche dieser Anhörung einen guten Verlauf, Selbsterkenntnis und Rea-
litätsbewußtsein, Verständnisbereitschaft und vielleicht sogar auch etwas Hu-
mor bei dem Unternehmen, die „wechselseitigen Wahrnehmungen und Reak-
tionen im geteilten Deutschland und ihre Nachwirkungen“ zu erkunden. Dan-
keschön.
(Beifall)
Ich lasse Sie jetzt einmal, meine sehr verehrten Damen und Herren, ein klein
wenig hinter den Vorhang schauen. Ich bin jetzt in der etwas mißlichen Situa-
tion, daß mich ein Kollege hat bitten lassen, ihm jetzt das Wort zu geben, da-
mit er sieben Minuten zusammenhängend reden kann. Ich kann ihm das Wort
aber nicht erteilen, weil er noch nicht hier ist. Wundern Sie sich also nicht,
wenn unser Kollege, Herr Professor Jacobsen, seine einführenden Worte erst
an einer anderen passenden Stelle wird reden können. Er ist auf dem Wege
vom Flugzeug hierher eben in einer Stadt, die nicht ganz leer ist, noch nicht
angekommen. Wir begrüßen aber den Kollegen Koschyk, der offensichtlich
mit einer anderen Maschine gekommen ist. Ich bitte darum zunächst, daß die
Vorträge in der angekündigten Reihenfolge gehalten werden. Der Professor
Jacobsen wird seine einleitenden Worte dann sicher zu Beginn seiner Modera-
tion sprechen können. Ich möchte aber noch eine technische Ansage machen
für die Mitglieder der Enquete-Kommission. Die hier vorne haben keine Pro-
bleme mit der Technik, habe ich mir sagen lassen, wir brauchen bloß anfangen
zu reden und dann funktioniert das. Sie, wenn Sie fragen oder reden wollen,
müssen einmal da vorne auf das Mikrophon, auf die Fläche draufdrücken, dann
geht das an. Sie brauchen nicht ein zweites Mal zu drücken, da passiert gar
nichts, sondern dadurch, daß der nächste, der dann spricht, auf sein Mikrophon
drückt, geht es bei Ihnen dann automatisch aus. Wenn Sie aber verstanden
werden wollen, das müssen Sie sich merken, müssen Sie auf das Mikrophon
vorne vor Ihnen drücken. Herzlichen Dank. Also, wie gesagt, ich bitte dann
um den ersten Vortrag zum Thema „Wahrnehmungsmuster in Ost- und West-
deutschland gestern und heute“. Bitte, Herr Rüdiger Thomas.
Rüdiger Thomas: Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren. Bevor ich
Ihnen einige Gedanken vortrage, die man in freier Variation der mir gestellten
Aufgabe und im Anschluß an Uwe Johnson „Mutmaßungen über die Gegen-
wart geteilter Vergangenheiten“ überschreiben könnte, möchte ich eine kurze
Vorbemerkung machen:
Wahrnehmungen unterscheiden sich nach Inhalt und Intensität. Wir alle neh-
men selektiv wahr. Wenn wir von Wahrnehmungsmustern reden, müssen wir
differenzieren: Sowohl im Längsschnitt, im Wandel von Zeitperioden, Wahr-
nehmungen ändern sich; als auch im Querschnitt, in der verschiedenen Wahr-
nehmung einer politisch sozialen Konstellation, Wahrnehmungen unterschei-
den sich.
Diesen Differenzen zwischen den Wahrnehmungsmustern im zeitlichen Wan-
del, gestern und heute, wollen wir in fünf Abschnitten nachgehen, skizzenhaft
und in der Erwartung, daß sich im Verlauf dieser Anhörung manche Stich-
worte konkretisieren werden.
1. Die Illusion gemeinsamer Interessen: 1945 bis 1948
Beginnen wir mit der Periode, als Deutschland zwar aufgeteilt, aber noch nicht
endgültig geteilt war. Das Ende des Krieges, die „Stunde Nichts“, wie sie
Heinrich Böll genannt hat, leitete zunächst eine kurze Phase gesamtdeutscher
Erwartungen ein. Die Intellektuellen in Ost und West machten sich auf die Su-
che nach Orientierung für eine gemeinsame Zukunft. Es entstanden zahllose
zonenübergreifende Zeitschriften, eine lebendige literarisch-politische Publizi-
stik, von der ich nur die „Frankfurter Hefte“ sowie „Ost und West“ erwähnen
möchte. Sie orientierten sich am antifaschistischen Konsens und propagierten
zumeist die Idee eines eigenen neuen Weges, die Synthese von Demokratie
und Sozialismus. Schon bald zeigte sich, daß diese Leitbegriffe von den Prota-
gonisten auf beiden Seiten unterschiedlich verstanden wurden: Zuerst auf poli-
tischer Ebene im entschiedenen Antikommunismus Kurt Schumachers, wenig
später im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, dann im
wachsenden Dissens der deutschen Schriftsteller, später in den PEN-Kontro-
versen, nachdem ein deutscher PEN 1948 gegründet werden konnte.
Schließlich war Mitte 1948 die staatliche Teilung Deutschlands präformiert.
Nach Währungsreform, Berlin-Blockade und der endgültigen politisch-admi-
nistrativen Spaltung Berlins war der Weg zur Teilung unaufhaltsam geworden.
Der „Klassenkampf nach innen“ hatte in der SBZ begonnen, die stalinistische
Herrschaftspraxis wurde nach dem Bruch der Sowjetunion mit Jugoslawien im
Juni 1948 auch in der DDR verschärft. Wer von dieser Politik betroffen war,
wanderte häufig schon in dieser Zeit in den Westen ab.
Der Beginn des Kalten Krieges und die Flüchtlinge aus der SBZ bestimmten
am Ende der vierziger Jahre das vorherrschende Wahrnehmungsmuster eines
essentiellen Antikommunismus im Westen. Die Illusion gemeinsamer Interes-
sen hatte sich in kurzer Zeit aufgelöst. Im Osten Deutschlands zeichnete sich
eine Spaltung der Gesellschaft ab: Ein Teil der jungen Generation ließ sich von
der Aufbruchstimmung revolutionärer Romantik faszinieren; wer von der Po-
litik der SED durch sozialen Aufstieg profitierte, ließ sich oft durch die Parole
beeindrucken, das bessere Deutschland aufzubauen.