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sind nicht entsprechend genutzt worden seitens der Bundesbürger. Selbst 1990,
im Herbst 1990, war noch knapp die Hälfte der Bundesbürger noch nie in der
DDR gewesen. Aber von den Ostdeutschen waren umgekehrt 97 % schon im
Westen gewesen, also da hatten lediglich 3 % – meistens Ältere, die nicht
mehr so reisefreudig waren – die Bundesrepublik nicht besucht. Umgekehrt
lief das sehr viel langsamer an, und auch die Bereitschaft, in den nächsten 12
Monaten jeweils den anderen Teil Deutschlands zu besuchen, war mit 60 %
bei den Ostdeutschen sehr viel stärker ausgeprägt als bei den Westdeutschen.
Von denen hat nur ein Fünftel eine entsprechende Absicht geäußert. Der Wert
für die Ostdeutschen war 1990 damit dreimal so hoch.
Jetzt noch etwas sehr Wichtiges. Wie haben die Ost- und die Westdeutschen
sich gegenseitig gesehen? Hier ein Wert von 1990. Die Westdeutschen sehen
die Ostdeutschen als obrigkeitshörig, leicht beeinflußbar, bescheiden, solida-
risch, sich selbst hingegen als selbstbewußt, überheblich, demokratisch, fleißig
und ehrgeizig. Der Witz ist, daß dieselben Positionen aber auch von den Ost-
deutschen so geäußert werden. Sie sehen sich selber ebenfalls als bescheiden,
leicht beeinflußbar, obrigkeitshörig, solidarisch, dazu noch politisch engagiert
und die Westdeutschen auch als überheblich, selbstbewußt – das fleißig fehlt –,
sie halten sie auch für geltungssüchtig, egoistisch und demokratisch. Wie ge-
sagt, beide sehen Ost- und Westdeutsche zwar als unterschiedlich, das aber
doch mit erheblicher Übereinstimmung an. Ein anderer Wert zur Grundein-
stellung. Bei der Aussage, man sei schon immer der Meinung gewesen, der
andere Teil Deutschlands sei Teil eines gemeinsamen Deutschlands, gab es
1990 relativ wenig Unterschiede zwischen Westdeutschen und Ostdeutschen,
42 oder 40 %, aber ein anderes fremdes Land, das ist bis heute so, das sagen
eben nur ein Fünftel der Westdeutschen und ein Sechstel der Ostdeutschen;
man geht also davon aus, es kommt zur Verständigung. Allerdings hat die Sy-
stemidentifikation der Ostdeutschen in den Jahren zwischen 1990 und 1993
stark nachgelassen. Wir haben hier eine Akzeptanz des bundesdeutschen Sy-
stems mit 73 % in 1990 und nur noch 52 % in 1993; im Vergleich dazu der
Wert für die westdeutsche Bevölkerung: Es sind 87 %, die, wenn auch zum
Teil kritisch, das System bejahen. Und mit dieser veränderten Systemidentifi-
kation geht eine verstärkt positive Akzeptanz des DDR-Systems im Rückblick
Hand in Hand. Haben 1990 noch 29 % von sich selber gesagt, sie hätten dem
System damals positiv gegenübergestanden, sind das in 1993 schon 43 %, also
ein eindeutiges Indiz dafür, daß man jetzt, bei größerer Distanz zum bundesre-
publikanischen System, die eigene frühere Einstellung zum DDR-System sehr
viel positiver sieht, als das noch zum Zeitpunkt der deutschen Einheit der Fall
war. Auch der Kommunismus lebt noch immer als eine gute Idee, die schlecht
verwirklicht wurde: Immerhin 71 %, stabile Werte seit 1990. Während 1993
die persönlichen Beziehungen gegenüber der bundesdeutschen Bevölkerung
sich weiter verbessert, die Kontakte sich vertieft haben, wird die Distanz zur
Politik deutlich größer. 44 % der Westdeutschen, aber mehr als zwei Drittel
der Ostdeutschen waren im Jahre 1993 sehr besorgt, daß die gesellschaftliche
Entwicklung immer mehr dazu führt, daß viele Menschen auf der Verlierer-
seite des Lebens stehen. Die Ostdeutschen vermissen, das haben wir 1995 aus
einer Untersuchung der Konrad-Adenauer-Stiftung erfahren, vor allen Dingen
Sicherheit, soziale Fürsorge und entsprechende demokratische Rahmenbedin-
gungen für diese Forderungen, während die Freiheitsrechte, die persönliche
Freiheit nach wie vor für die Ostdeutschen eine nicht so wichtige Rolle spielen
wie für die Westdeutschen. Diese ganze Entwicklung, diese Politikverdrossen-
heit, diese Distanz zum bundesdeutschen Politiksystem hat sich seither ständig
in der Tendenz verstärkt. Das ist eine ernstzunehmende Entwicklung. Damit
möchte ich schließen und bedanke mich für Ihr Interesse.
(Beifall)
Gesprächsleiter Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Adolf Jacobsen: Vielen Dank Frau
Köhler für die Präsentation Ihrer Daten, die sich als eine gute Ergänzung zu
den Ausführungen von Herrn Thomas verstehen lassen. Wir können diese als
eine Grundlage für die gleich nun einsetzende Diskussion nutzen.
Ich hatte, meine Damen und Herren, darauf hingewiesen, daß ich einige weni-
ge Bemerkungen zu dem Ablauf der heutigen Tagung machen möchte, einfach
deshalb, weil das äußerst komplizierte und schwierige Thema der gegenseiti-
gen Wahrnehmung natürlich auch von uns nur, aus verständlichen Gründen,
selektiv behandelt und vorgetragen werden kann. Wahrnehmung ist und bleibt
immer eine Selektion, weil wir die Komplexität des Politischen gar nicht voll
erfassen können. Und gerade bei dieser Auswahl werden natürlich auch gewis-
se Schwachpunkte deutlich, daß bestimmte, ganz wesentliche Aspekte der ge-
genseitige Wahrnehmungen hier gar nicht behandeln werden können. Zum
Teil haben wir das allerdings schon in unserem ersten Bericht mit aufgenom-
men. Manches davon wird im zweiten noch zu berücksichtigen sein. Ich denke
vor allen Dingen an das unsere Politik weit überschattende Problem der gegen-
seitigen Bedrohungen. Ein Phänomen, das bis in die Gegenwart hinein noch
eine Rolle spielt, wenn ich an die Situation NATO-Öffnung nach Osten denke
usw. Das kann hier gar nicht weiter vertieft werden. Das wäre ein solches Pro-
blem, und ich glaube, wir sollten uns im Zusammenhang mit den Wahrneh-
mungen im klaren darüber werden, daß gerade bei der gegenseitigen Wahr-
nehmung der beiden deutschen Staaten zunächst der grundsätzliche Unter-
schied darin besteht, daß wir es auf der einen Seite mit einer stark ausgepräg-
ten nationalstaatlichen Betrachtungsweise zu tun gehabt haben und das vor den
Hintergrund einer Demokratie im Bündnis, also pluralistisch unter Einbezie-
hung auch der Gesichtspunkte unserer Verbündeten. Auf der anderen Seite ein
sehr stark ausgeprägtes monistisches Deutungsmuster, Resultante der ideologi-
schen Perspektive, die zumindest auch bei Herrn Thomas immer wieder an-
klang. Bei den Wahrnehmungen sollte man generell vielleicht doch auch be-
rücksichtigen, daß wir in der Bewertung sehr sehr vorsichtig sein müssen.
Wenn man an bestimmte Publikationen der letzten Jahre erinnert, bei denen
Überschriften im Hinblick auf Wahrnehmungsmuster der Vergangenheit u. a.
lauten: „Galerie“ der entsprechend „Blamierten“ oder die „Lebenslüge der
Bundesrepublik Deutschland“, da würde ich dringend davor warnen, so leicht-