Fehler melden / Feedback
Zeitzeugen (Gespräch mit Karl Wilhelm Fricke und Ulrich Schwarz) Hans Modrow – Günter Schabowski – Karl Schirdewan – Gerhard Schürer – Manfred Uschner | 471 |
Diskussion | 494 |
Vorsitzender Rainer Eppelmann: Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die öffentliche Anhörung unserer Enquete-
Kommission heute und morgen zum Thema „Die Machthierarchie der SED“
findetso denke icham passenden Ort statt. Wir tagen im Plenarsaal jenes
Gebäudesdas als Sitz des Zentralkomitees der SED für viele Bürger in der
DDR als Stein gewordener Ausdruck der Macht der führenden Partei der
Arbeiterklasse galt. Ich freue michSie alle – auch die Vertreter der Medien –
an diesem historischen Ort begrüßen zu können.
Mein besonders herzlicher Gruß gilt dem Regierenden Bürgermeister von
BerlinHerrn Eberhard Diepgender nachher auch ein Wort der Begrüßung
an uns richten wird. Einen besonders herzlichen Gruß richte ich deswegen
an ihnweil sein Hiersein deutlich macht: Berlin und die Berlinersie freuen
sichund es ist ihnen wichtigdaß wir hier sind und uns diesem Thema stellen.
(Beifall)
Ich irre mich wohl kaumwenn ich feststelledaß das Interesse an der
Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit seit dem 12. Januar dieses Jahres
an Intensität wieder gewonnen hat. Mit dem 12. Januar meine ich jenen
Tagan dem der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin den ehemaligen
Generalsekretär der SED in rechtsstaatlicher Anerkennung des Grundrechts auf
Achtung der Menschenwürde auf freien Fuß gesetzt hat. Viele Bürger unseres
Landes haben – die rechtsstaatliche Notwendigkeit dieser Entscheidung
anerkennend – gefragtob auf diese Weise auch besonders gegenüber den
Opfern der SED-Diktatur wirklich Gerechtigkeit geübt wurde.
Ein auf das Grundgesetz der Bundesrepublik verpflichtetes Verfassungsgericht
konnte wohl nicht anders entscheidenals es der Verfassungsgerichtshof des
Landes Berlin getan hat. Trotzdem – oder gerade deshalb – bleibt festzustellen:
Der ehemalige Generalsekretär der SED gehört für mich zu den großen
Verlierern des letzten Drittels unseres Jahrhunderts. Die – so meine ich
jedenfalls – für ihn schlimmste Strafe hat er durch die meisten der 16 Millionen
DDR-Bürger schon im Herbst 1989 erhalten. Sie haben ihn gestürzt und in
Lindow davongejagt.
Weshalb erinnere ich noch einmal an das Schicksal dieses „großen Verlierers“
des letzten Drittels unseres Jahrhunderts? Ich tue das vor allem deshalbweil
in der Reaktion breiter Schichtenvon vielen Menschenauf den Ausgang des
Honecker-Prozesses viel von dem sichtbar wurdewas zu den wesentlichen
Merkmalen der Machthierarchie der SED gehörte. Die Bürger der DDR
erlebten und erlitten – das ist jedenfalls mein Eindruck – die SED als
die alles bestimmende und immer unfehlbare, aber auch weithin anonyme
Macht, die das Leben der Menschen in der DDR in allen Einzelheiten
vorherzubestimmen und zu beplanen schien, leitete und kontrollierte. Das
sorgfältig ausgefeilte Hierarchiesystem der SED sicherte – so schien es
zumindest – die Allgegenwart der Partei in praktisch allen Lebensbereichen,
mit vielleicht einer Ausnahme – und selbst da sind wir inzwischen skeptisch
geworden –, dem der Kirchen.
Keine Aktivität war der SED zu gering, als daß sie sich nicht auch dort offen
oder verdeckt eingeschaltet hätte. Elternversammlungen in den Schulen, die
Hausgemeinschaftskollektive, der Verband der Kleintierzüchter und Siedler,
die Philatelisten und die Numismatiker und nicht zuletzt die Sportclubs – sie
alle wurden von der SED in ihrem Tun beeinflußt, vorherbestimmt, angeleitet
und mehr oder weniger intensiv kontrolliert.
Ganz genauso wurde dann selbstverständlich auch in den Betrieben, den
Verwaltungen, den Schulen und Universitäten verfahren. Die Partei war –
oder schien es zumindest zu sein, allgegenwärtig, auch immer wieder in den
sogenannten Blockparteien. Wer in der DDR Karriere machen wollte, bekam
die Allgegenwart der SED ständig zu spüren.
Vollständig eingebunden in dieses hierarchische Machtsystem der SED waren
aber auch und vor allen Dingen jene Organe, die der Sicherung der DDR
zu dienen hatten, die Nationale Volksarmee, die Polizei und natürlich der
Staatssicherheitsdienst, der sich ganz offen als „Schild und Schwert der Partei“
bezeichnete. Bei unserer letzten Anhörung in der vergangenen Woche ist,
glaube ich, sehr gut deutlich geworden: Eigentlich hätte es heißen müssen
„Schild und Schwert der Parteiführung“.
Alle diese Institutionen – vom Elternaktiv bis zum Ministerium für Staatssi-
cherheit – hatten der Stabilisierung der SED-Herrschaft zu dienen und waren
Werkzeuge des allumfassenden Machtanspruchs dieser Partei. Gerade diese
Allgegenwart bewirkte aber, daß die Art und Weise ihrer Machtausübung für
den Bürger zumeist undurchschaubar blieb. Auch geschulte Politologen und
Zeithistoriker außerhalb der DDR haben sich hier in ihrer Beurteilung nur allzu
oft geirrt. Die Undurchschaubarkeit der Machtausübung und Machtsicherung
durch die SED führt heute dazu, daß Schuldvorwürfe oft sehr pauschal erhoben
werden. Wer so ganz ohne weiteres etwa von den „roten Socken“ spricht,
der verkennt, daß es sich bei den gemeinten Funktionären – erstens – um
Menschen handelt, die sich im System der Machthierarchie der DDR – zwei-
tens – durchaus sehr unterschiedlich verhalten haben. Auch ihnen gegenüber
muß gelten, daß jeder Mensch für sich nach dem zu beurteilen ist, was er
getan oder unterlassen hat.
Die Undurchschaubarkeit der Machtausübung und Machtsicherung durch die
SED macht es allerdings auch vielen Tätern heute einfach, ihre Bedeutung