Fehler melden / Feedback
politischen Ideen bedeutet. Sie hatten eine Ahnung davon bekommen, wie eine
freie Gesellschaft ihre Geschicke im Widerstreit der Meinungen selbständig
gestaltet.
Als in Polen die Solidarnosc-Bewegung als eine Bewegung der Industrie-
arbeiterschaft, die die Kirche und die Intellektuellen unterstützten, zur ge-
staltenden Kraft wurde, lernten die DDR-Bürger wieder eine neue Lektion.
Die Faszination der politischen Freiheit verband sich nun mit der Einsicht,
daß politische Freiheiten nicht von Einzelkämpfern erstritten werden können.
Der paktgebundenen Vernetzung der Machthaber mußte die Vernetzung der
Unterdrückten in den Ländern des Warschauer Vertrages entgegengesetzt
werden. Waren die Menschen in der DDR 1968 noch weitgehend Zuschauer
geblieben, so entstanden seit den Jahren 1980/81 erste Formen einer inter-
nationalen Koordination. Wir suchten über die Staatsgrenzen hinweg, die die
Machthaber abzuriegeln versuchten, den Kontakt zueinander und begannen,
darüber nachzudenken, unter welchen Bedingungen die friedliche Opposition
Erfolg haben könnte.
Gewaltsame Aufstände konnten die Machthaber mit militärischen Mitteln
beenden. Einer friedlichen Opposition war so nicht beizukommen. Aus
scheinbarer Schwäche wurde so allmählich eine Kraft, die eine grundlegende
Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse bewirken konnte.
Die Menschen in der CSSR und in Polen übernahmen damit die Funktion von
Lehrern, die es den anderen Völkern in der realsozialistischen Staatengemein-
schaft vormachten, wie sich mit Mut, Zähigkeit und Klugheit etwas verändern
läßt.
Bereits zu Beginn der 80er Jahre erkannten kluge und fachkundige Beobachter
zudem, mit welcher Geschwindigkeit der Realsozialismus seinem wirtschaft-
lichen Ende entgegeneilte. Die ererbten Ressourcen waren verbraucht. Eine
aufgeblähte Rüstungsindustrie und ein gigantischer Sicherheits- und Militär-
apparat verschlangen, was die Wirtschaft der sozialistischen Staaten noch zu
leisten vermochte. Als sich dann schließlich auch noch die internationalen
Rahmenbedingungen durch den Wandel in der Sowjetunion grundlegend zu
verwandeln begannen, mußten die kommunistischen Machthaber dem Druck
der gewaltfreien Opposition weichen.
In der Vorgeschichte der Wende des Jahres 1989 haben der Prager Frühling und
der Kampf der Solidarnosc-Bewegung in Polen ihren unverwechselbaren und
notwendigen Platz. Diese veränderten zuerst das gesellschaftliche Bewußtsein
innerhalb der sozialistischen Staaten, wirkten dann im KSZE-Prozeß auch auf
das Ost-West-Verhältnis insgesamt ein und können auch heute noch für die
Neugestaltung Europas wichtige Anregungen vermitteln.
Ich bin froh darüber, daß wir heute polnische und tschechische und slowaki-
sche Nachbarn unter uns haben und mit ihnen über diese zwei Geschehnisse,
die, wie ich versuchte anzudeuten, erheblichen Einfluß auf unsere innenpoliti-
schen Verhaltensweisen und Entwicklungen hatten, miteinander ins Gespräch
kommen können.
Ich bitte nun Gert Weisskirchen, daß er das erste Gespräch leitet. Ich wünsche
uns allen einen guten Tag und hoffe, daß wir begreifen, daß wir auch in Europa
in einem Haus sind.
Gesprächsleiter Prof. Gert Weisskirchen (SPD): Wenn man das Jahr 1968
in den letzten beiden Ziffern vertauscht und die 6 auf den Kopf stellt, kommt
eine andere Zahl heraus, nämlich das Jahr 1989. In der Tat hat 1968 etwas
mit 1989 zu tun. Gestern haben wir schon über 1968 – indirekt aus westlicher
Sicht – geredet. Heute reden wir über 1968 aus der Perspektive der Mitte
Europas; denn Prag liegt westlicher als Wien, worauf die Prager in jener Zeit,
die wir heute debattieren, immer hingewiesen haben.
Ein Zweites darf hinzugefügt werden, um die Mehrstimmigkeit der Zahl
68 deutlich zu machen. Petr Uhl, der Mann Frau Anna Sabatovas, die ich
herzlich unter uns begrüße, war 1968 nicht nur in Prag, sondern auch in Paris,
und er erfuhr dort, was Studentenrevolte hieß. Ein anderer 68er, der heute
nicht hat kommen können, Adam Michnik, war einer der Studentenführer in
Warschau. Er ist dort einer der wesentlichen Vorantreibenden gewesen, die
die Verknüpfung des Jahres 1968 zwischen Polen und Westeuropa hergestellt
haben.
Ein anderer 68er, der gestern auch schon einmal erwähnt worden ist, der
Freund unseres Kollegen Manfred Wilke, nämlich Rudi Dutschke, hat im April
1968 an der Prager Universität eine lebhafte Debatte geführt, und er hat sich
verwundert gezeigt, als er nach West-Berlin zurückkam, wie denn dort über die
Perspektive des Jahres 1968 debattiert worden ist, nämlich eher aus einer Sicht,
die man damals die eines philosophischen Existentialismus nennen konnte,
während er mit einem undogmatischen marxistischem Ansatz versuchte, mit
seinen Kommilitoninnen und Kommilitonen in Prag zu debattieren.
Das Jahr 1968 ist also wohl auf der einen Seite ein Jahr der Hoffnungen und
auf der anderen Seite mit dem 21. August ein Jahr der Niederlage, ein Jahr
des Schmerzes und der Melancholie, nämlich der Melancholie der verlorenen
Selbstbestimmung der CSSR.
Alexander Dubcek hat dazu in seinem Buch „Im Namen der Freiheit“ einiges
geschrieben. Ein anderer, Timothy Garton Ash, hat das Jahr noch einmal in
seinem großen Buch „Im Namen Europas“ reflektiert. Er ist einer, der, damals
verschlagen nach Ost-Berlin, mit einem ganz anderen wissenschaftlichen
Auftrag miterlebte, wie von innen her die Zerfallsprodukte dessen, was
nach 1968 eintrat, deutlich wurden, nämlich die Rekonstruierung oder in
vielen Punkten überhaupt erst die Konstruktion, der Aufbau einer zivilen
Bürgergesellschaft.
Zdenek Mlynar, ich frage mich häufig: Welche Bedeutung hat das Jahr 1968