schließen

Fehler melden / Feedback

Angezeigte SeitenWahlperiode 12, Band III/1, Seiten 54 und 55 (wp12b3_1_0058)
betrifft 1)
Fehlerart 1)Seiten-Überschrift falsch
Seiten-Nummer falsch
Seiten-Nummer-Position falsch (rechts/links)
falsches Bild / Bild fehlt
Seite wird nicht angezeigt
Fehler im Text
Formatierung falsch
nicht aufgeführter Fehler / nur Feedback
Ihr Name
Erklärung/Feedback 1)
(nur erforderlich, falls
nicht aufgeführter
Fehler
oder nur Feed­back)
Ihre E-Mail-Adresse 2)
1)  erforderlich
2) für Rückfragen, empfohlen
   
Wahlperiode 12, Band III/1, Seiten 54 und 55
54
Protokoll der 28. Sitzung

wieder in die Tasche gesteckt. Ein Bischof fragte mich, wenn das alles so
zerbrochen sei, dann müßte doch jetzt ein ungeheurer Zulauf zu den Kirchen
zu verzeichnen sein. Das Gegenteil ist der Fall. Ich denke, eine tiefgreifende
Erneuerung ist nach menschlichem Ermessen nicht zu erwarten, wenn nicht
vorrangig zu den notwendigen Aufgaben des Wirtschaftlichen, Ökologischen
usw. eine Erneuerung des Denkens und der sittlichen Einsicht einsetzt, in
welcher an die Stelle des Habens das Sein tritt – ich wiederhole hier Wörter,
die wir alle aus der Literatur kennen – an die Stelle des Strebens bloß nach
materiellen Gütern die Suche nach sittlichen Werten tritt, die das Menschsein
erst zu einem human gelingenden Menschsein werden lassen.

Die Gesellschaft, in der wir jetzt leben, ist ein freiheitlich und demokratisch
verfaßtes Gemeinwesen, eine pluralistische Gesellschaft. Dieser Pluralismus
wird in Zukunft auch unser Schicksal sein. Aber auch hier muß jeder nach
bestem Wissen und Gewissen entscheiden, welchen Werten er in seinem
Leben den Vorrang geben will. Über die Bewältigung der Vergangenheit
hinaus geht es in der einen, aber noch nicht einigen, Gesellschaft um das
gemeinsame Suchen nach dem, was uns verbindlich verbindet. Es geht nicht
um Beliebigkeit, sondern um ein Leben in verantworteter Freiheit. Das ist ein
schwieriger Prozeß. Es ist eine große Herausforderung, aber auch eine große
Chance. Wir haben eine solche Herausforderung in unserer Geschichte noch
nicht gehabt. Wir haben aber auch eine solche Chance noch nicht gehabt. Und
es wäre schlimm, wenn wir sie vertun würden. Ich habe keine Patentrezepte,
wie niemand anders auch. Es wäre auch schlimm, wenn man das hätte. Sicher
ist nur, daß die Werte, die uns das Leben lebenswert machen lassen, in einem
kommunikativen Prozeß gefunden werden müssen, in welchem überzeugend
begründete Handlungsmaximen und Orientierungen erstellt werden müssen,
die in gelebter Verantwortung zu größerer Freiheit führen. Bei all dem
muß eines unverrückbar Geltung haben: Ursprung, Träger und Ziel aller
Bemühungen, aller Institutionen, ist und muß immer der Mensch sein. Von
höchster Wichtigkeit ist, daß dies alles – und hier sind Defizite – den jungen
Menschen vorgelebt und vermittelt wird, so daß sie es auch annehmen und
leben können und nicht als etwas Verfremdendes erfahren. Dies gehört zu
unserer ethischen und politischen Kultur. Und darum bin ich froh, daß ich
zum ersten Mal vor einem solchen Gremium auch von Politikern sprechen
darf. Wenn uns das, meine Damen und Herren, nur ein wenig besser gelingt
als bisher, als in der Vergangenheit und auch in der Gegenwart, dann dürfen
wir sicher darauf vertrauen, daß wir eine gute gemeinsame Zukunft haben.

Ich bin davon überzeugt, daß es vielen Christen in unserem Lande ähnlich
geht wie mir, nämlich so: Wir haben immer aus der Überzeugung gelebt,
daß das System des marxistischen Sozialismus nicht überdauern würde, aber
wir haben nicht damit gerechnet, daß dies, das geben wir zu, so schnell und
so ohne jede Würde zusammenbrach. Wie seit der Wende jeden Tag, so bete

55
Marxismus-Leninismus und soziale Umgestaltung

ich auch heute noch an jedem Morgen, den Gott mir schenkt: lieber Gott, ich
danke Dir, daß ich das noch erleben durfte. Ich danke Ihnen.

Stellvertretende Vorsitzende Margot von Renesse: Herr Professor Ernst,
wir danken Ihnen für diesen Vortrag, mit dem Sie die Sicht eines Menschen
geschildert haben, der aus Biographie und sicherlich auch geistiger Veran-
kerung so etwas wie einen archimedischen Punkt in dieser Gesellschaft und
gleichwohl außerhalb ihrer gefunden hat. Meine Damen und Herren, wir haben
nicht lange Zeit für die Diskussion, denn, bitte verstehen Sie, ich werde sehr
auf die Zeit achten, die wir ja in so reichem Maße schon eingebüßt haben,
für das Wohl des Volkes. Ich bitte um Wortmeldungen für die Diskussion. Als
erster hat sich Herr Faulenbach gemeldet.

Sv. Dr. Bernd Faulenbach: Es stehen alle Referate zur Diskussion. Zunächst
zu dem Referat von Herrn Löw. Ich weiß nicht, ob wir tatsächlich weiter-
kommen, wenn wir Marx so interpretieren, wie Sie das tun. Mich hat Ihre
Darstellung erinnert an die Art, wie die SED Marx interpretiert hat. Sie haben
bestimmte Zitate zusammengetragen und die jeweiligen historischen Kontexte
dabei außer acht gelassen. Ich plädiere dafür, Marx zu historisieren, d. h. ihn
im jeweiligen Kontext zu sehen. Es gehört einfach dazu, bei einem Zitat
zu sagen, aus welcher Auseinandersetzung etwa ein bestimmtes Votum, eine
bestimmte Formulierung stammt. Dieses Vorgehen nur über Dogmen führt
jedenfalls bei der historischen Würdigung der Figur von Marx in die Irre. Die
historische Würdigung von Marx muß die jeweiligen Diskussionskontexte und
die jeweiligen Zeithorizonte vollständig einbeziehen. Natürlich haben Sie dies
auch aufgrund der Kürze der Zeit nur bedingt tun können.

Ich will es mal so sagen, es spricht manches dafür zu sagen, daß Marx eben
kein Marxist war. Man kann ihn nicht nur von der Warte, was nachher kommt,
sehen, sondern man hat ihn auch in die historischen Zusammenhänge zu
stellen.

Zweite Bemerkung: Natürlich ist es von Relevanz, wie Marx interpretiert,
wie er rezipiert worden ist. Insofern macht es Sinn, die Marxrezeption und
den Marxismus aufzuarbeiten, nur führen dann die Linien nicht nur zu
Lenin, sondern z. B. auch zu Kautsky. Kautsky hat nie von der Diktatur des
Proletariats gesprochen – das spielt im kautskyanischen Marxismus keine
Rolle, abgesehen davon, daß Kautsky zu den ausgesprochen pointierten
Kritikern der sowjetischen Entwicklung gehört. M.a.W. wir können doch bei
einer nüchternen historischen Betrachtung den Marxismus nicht auf diese eine
Linie zu Lenin hin verengen. Neben Kautsky wären dann auch Bernstein und
andere zu nennen. Das paßt alles nicht in dieses etwas enge Bild. Ich möchte
also davor warnen, Marx so eng vom DDR-Marxismus-Leninismus her zu
interpretieren, wie das hier gemacht worden ist.

Dritte Bemerkung: Im Hinblick auf die Rolle des Marxismus-Leninismus in
der DDR, die im Zentrum des Referats von Wolfgang Leonhard stand, würde