Fehler melden / Feedback
in und um Berlin hatten. Die Berliner haben sich in dieser Nacht darüber
hinweggesetzt.
Der Fall der Mauer, die Einforderung der deutschen Einheit fand in einer
Form statt, die politisch vollkommen unangreifbar war. Es war der Souverän,
es war das Volk, der dies tat, und danach mußten sich alle Mächte und alle
Regierungen richten.
Das ist das große nationale Verdienst der Berliner von 1989, ihre Tat
bekräftigte die Option von 1946; die Deutschen gehören zum Westen. Ich
danke Ihnen.
Gesprächsleiterin Dr. Dorothee Wilms (CDU/CSU): Vielen Dank auch
Ihnen, Herr Professor Wilke. Sie haben das Augenmerk noch einmal auf die
demokratische Anfangszeit gelenkt, was sehr wichtig ist, und noch einmal an
den 9. November erinnert.
Wenn die persönliche Bemerkung gestattet ist: Ich habe am 9. November ganz
zufällig bei einer Konferenz von Historikern hier im Saal gestanden, und ich
habe es überhaupt nicht begreifen können, als mir ein Zettel hereingegeben
wurde: Die Mauer ist offen. Ich habe das nicht begriffen, nicht verstanden.
Und erst beim zweiten Zettel dämmerte mir, daß das wohl auch so gemeint
war.
Abg. Prof. Dr. Soell (SPD): Frau Vorsitzende, ich frage es, weil es mir
schon von anderer Seite geschildert wurde: Ist es richtig, daß dann jemand
aus Ihrer Begleitung versucht hat, die sowjetische Botschaft zu erreichen, um
zu erfahren, ob Reaktionen der Sowjetbehörden, etwa auch der sowjetischen
Armee, zu erwarten wären? Ist das richtig? So wurde mir das geschildert.
Und als dort niemand erreicht wurde, hätte man in der Luftsicherheitszentrale
angerufen, und ein sowjetischer Beamter hätte gesagt, die sowjetischen Panzer
blieben in ihren Kasernen. – Also richtig dramatisch!
Gesprächsleiterin Dr. Dorothee Wilms (CDU/CSU): Daß es dramatisch war,
ist sicher richtig. Vor allem war es unfaßbar. Allerdings ist mir von diesen
Telefonaten nichts bekannt, was nicht ausschließt, daß von anderen Stellen in
Berlin solche Anrufe möglicherweise getätigt worden sind. Das kann ich aber
nicht bezeugen.
Herr Mitter, Sie haben das Wort. – Herr Dr. Armin Mitter, sachverständiges
Mitglied der Enquete-Kommission für das Bündnis 90/Die Grünen. Bitte
schön.
Sv. Dr. Armin Mitter: Vielen Dank, Frau Vorsitzende! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Zwar hat Herr Wilke darauf hingewiesen, daß wir heute
schon eine Menge über 1961 und den Mauerbau gehört haben; ich hoffe aber,
ich werde Sie mit meinen Ausführungen nicht langweilen, die sich vor allen
Dingen mit der inneren Verfassung der DDR-Gesellschaft vor dem Mauerbau,
vor allem seit 1958 bis nach dem Mauerbau, etwa im Herbst 1961, die ich an
einigen Stichpunkten schildern will, beschäftigen.
Die Grundlage für meine Ausführungen ist ein gründliches Studium – soweit
es möglich war – in den Akten des ehemaligen Ministeriums für Staatssi-
cherheit, im ehemaligen SED-Archiv und im Archiv der Einheitsgewerkschaft
FDGB.
Herr Mahncke hat das eigentlich im Moment vielleicht interessanteste
Forschungsproblem in der neueren Zeitgeschichtsschreibung schon formuliert.
Er hat darauf hingewiesen, daß gerade die Abhängigkeit der SED von den
sowjetischen Genossen in Moskau oder die Eigenständigkeit der SED – eben
dieses Wechselverhältnis – im Moment die Geister bewegt und einen sehr
breiten Raum in der Literatur einnimmt.
Es ist geradezu interessant festzustellen, daß, parallel zu den forcierten Rü-
stungsbestrebungen von Chruschtschow 1958, die aus einer gewissen Über-
legenheitsmentalität heraus resultierten – einerseits war der Sputnik-Schock
nicht lange her, andererseits hatte sich das Land wirtschaftlich einigermaßen
konsolidiert, Ungarn war niedergeschlagen, man hatte verhindert, daß in den
anderen kommunistischen Staaten ähnliche Ereignisse stattfinden – der V.
Parteitag der SED auf Betreiben des Zentralkomitees bzw. des Politbüros der
SED die forcierte Vollendung des Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus
beschloß.
Ich glaube, daß diese zwei Dinge sehr viel miteinander zu tun haben, eng
aufeinander abgestimmt waren. Man darf nicht vergessen – Herr Wolle hat das
meines Erachtens sehr prägnant benannt –, daß es sich bei der Berlin-Krise
zwischen 1958 und 1961 eben nicht um eine Berlin-Krise im engeren Sinne,
sondern um eine innere gesellschaftliche Krise der DDR handelte.
In der DDR-Hofgeschichtsschreibung – etwas anderes ist bis 1989 nicht
festzustellen – ist der Mauerbau immer wieder mehr oder weniger plump
und primitiv damit begründet worden, daß die DDR ausbluten würde,
wenn man die Mauer nicht gebaut hätte. Ich möchte dagegen polemisieren:
Man vertauscht hier Ursache und Wirkung. Gerade diesem Komplex, der
Rolle der Fluchtbewegung in der Zeit zwischen 1958 und 1961, kommt
deshalb so große Bedeutung zu, weil auch in einem Teil der westdeutschen
Zeitgeschichtsschreibung immer stärker dieses Argument gebraucht wurde –
bis zu der für mich uneinsichtigen These, daß der Sozialismus in der DDR
eigentlich erst aufgebaut werden konnte, als die Mauer gebaut worden war, mit
dem Hintergrund, daß die DDR zwangsläufig hätte ausbluten müssen, wenn
die Mauer nicht gebaut worden wäre.
Meines Erachtens hatte der forcierte Aufbau des Sozialismus eine innergesell-
schaftliche Umgestaltung zum Inhalt, die verschiedene soziale Schichten in
Bewegung gebracht hat. Es war durchaus nicht so, daß die Anziehungskraft
des Westens allein diese Fluchtbewegung hervorgerufen hat. In erster Linie