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Wahlperiode 12, Band V/1, Seiten 208 und 209
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Protokoll der 47. Sitzung

schon in den frühen 80er Jahren die Überlegungen in der Solidarnosc gab, die
eben hier dargestellt worden sind.

Ich möchte die Stafette an den nächsten Redner weitergeben, Ludwig
Mehlhorn. Vielleicht kannst du auch die Frage beantworten, inwieweit du
selbst Bekanntschaft mit diesen Überlegungen und Thesen hattest. Denn
das, was in Polen diskutiert worden ist, hätte für unsere Diskussion in der
DDR-Opposition durchaus eine Rolle spielen können.

Ludwig Mehlhorn: Ich werde gerne darauf eingehen. Ich denke, es hat
tatsächlich eine Rolle gespielt.

Sehr geehrter Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren! Ich habe
mir aus dem vorgegebenen Thema einen Unterkomplex herausgegriffen:
Solidarnosc einschließlich ihrer Vorgeschichte und ihre Auswirkungen auf
die DDR: Wie ist auf die polnischen Ereignisse 1980/81 reagiert worden?
Ich möchte zwischen Ad-hoc-Reaktionen und längerfristigen Auswirkungen
unterscheiden. Ich will in der DDR drei Ebenen unterscheiden: erstens Partei
und Staat, zweitens die Gesellschaft, drittens die Opposition. Sie bekommen
auf diese Weise eine Matrix von 3 x 2 Feldern, in die ich bestimmte Fakten,
Beobachtungen und Reflexionen hineingebe. Es erübrigt sich, zu sagen, daß es
fließende Übergänge gibt. Um den Preis dieser Holzschnitzartigkeit werde ich
versuchen, die vorgegebenen zehn Minuten nicht zu überschreiten.

Kurzfristige Reaktionen, zunächst auf der Ebene von Partei und Staat. Hier
brauche ich nur auf die Dokumente zu verweisen, die Professor Wilke,
Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität, herausgegeben hat.
Dort ist das alles säuberlich aufgeführt. Die SED hat mit sicherem Instinkt
sofort die Bedrohung erkannt, die von der Solidarnosc für ihre Machtbasis
ausging. Bereits Ende September 1980 legte Axen dem Politbüro eine Analyse
vor. Der PVAP wird darin u. a. vorgeworfen – ich zitiere aus diesem Katalog –:
Negieren der konterrevolutionären Kräfte, rückwärtsgerichtete Fehlerdiskus-
sion, Isolierung von den Massen, Duldung der Kirche als einem zweiten
Zentrum der Macht, Spaltung der Gewerkschaftsbewegung, Deformierung der
sozialistischen Demokratie in Richtung einer bürgerlichen Gewaltenteilung,
Verletzung des Prinzips der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, Akti-
onslosigkeit und Kapitulantentum, Vernachlässigung der Auseinandersetzung
mit Nationalismus, Antisowjetismus und Revisionismus. Das geht eine ganze
Weile so weiter.

Noch vor der offiziellen Zulassung der Solidarnosc im November 1980
definierte die SED die Ereignisse als Konterrevolution. Sie schätzte die
Lage in Polen schlimmer als 1968 in der CSSR, schlimmer als unter
Dubcek ein. Ende Oktober 1980 beschloß die SED, den seit 1971 mit Polen
bestehenden visafreien Reiseverkehr einseitig „zeitweise auszusetzen“. Nach
der Registrierung der „Solidarität“ im November wollte Honecker selbst
auf das Blutvergießen als letztes Mittel nicht mehr verzichten, „wenn die

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Internationale Rahmenbedingungen (CSSR 1968, Polen 1980/81)

Arbeiter-und-Bauern-Macht verteidigt werden muß“. Allerdings konnte er sich
damit zu diesem Zeitpunkt in Moskau bereits nicht mehr durchsetzen.

Die SED mußte ein ganzes Jahr auf einen wirksamen Gegenschlag warten.
Bis zum 13. Dezember 1981 blieb ihr nur die Drohgebärde nach innen
und außen. Aber auch die hatte es in sich. Die Parteipresse setzte eine
Desinformations- und Hetzkampagne in Gang. Die Schlagzeilen lauteten:
„Solidarnosc stürzt Polen ins Chaos“, „Ohne Arbeit kann keine Gesellschaft
leben“, „Antisozialistische Kräfte werden immer dreister“ etc. Zwischen den
Zeilen appellierte diese Propaganda unverhohlen an das Vorurteil gegenüber
der polnischen Wirtschaft. Teilweise reagierten die Genossen offen aggressiv
und geradezu haßerfüllt, vor allem in internen Schulungen, die im Ton immer
noch einen Zahn schärfer waren als das, was im „Neuen Deutschland“ stand.
Ich selbst habe einen Dozenten für Marxismus-Leninismus erlebt, der im
Dezember 1980 erklärte, die Produktionsausfälle auf Grund der Streiks in
Polen hätten inzwischen zu größeren wirtschaftlichen Schäden geführt als der
gesamte Zweite Weltkrieg. Ich will es damit bewenden lassen. Wie gesagt: In
den von Professor Wilke herausgegebenen Dokumenten kann man das alles
im Detail nachlesen.

Die Ebene der Gesellschaft. Wie haben die Menschen in der DDR auf die
Ereignisse in Polen reagiert? Ihnen standen im Prinzip drei Informationsquel-
len offen: Einmal die eigene Presse, zum anderen die Medien des Westens
und zumindest in der Anfangsphase auch der eigene Augenschein. Ich glaube
jedoch, daß sich mit Solidarnosc zu keiner Phase in der DDR so große
Hoffnungen verbanden wie etwa mit dem Prager Frühling. Obwohl die SED,
wie schon gesagt, die Solidarnosc als schlimmer, als bedrohlicher einschätzte,
möchte ich dennoch versuchen, drei Phasen zu unterscheiden.

Eine erste Phase kann man mit Respekt und Hoffnung beschreiben. Die
Leute hofften, es möge den Polen gelingen, den Herrschenden ein Stück
mehr Freiheit abzutrotzen. Eine charakteristische Äußerung: Die trauen sich
wenigstens etwas, und vielleicht springt auch für uns etwas dabei heraus.
Oder: Wenn sie wegen der Preiserhöhungen streiken, dann ist das nur recht
und billig, dann ist das bei uns auch bald dran.

Diese Phase war relativ kurz. Sie wurde schnell abgelöst – sicherlich auch
unter dem Eindruck der eben beschriebenen SED-Kampagne – durch eine
zweite Phase, die bis zur Verhängung des Kriegsrechts reichte. Ich glaube,
es ist die Phase, die sich im Bewußtsein bei uns und auch in Polen später
festgesetzt hat. Es ist eine Phase, in der eine Haltung des Unverständnisses und
der Besorgnis vor nachteiligen Folgen für die Verhältnisse in der DDR, sowohl
wirtschaftlich als auch politisch, dominierte. Sie war auch charakterisiert durch
die Angst, man könnte wie 1968 in ein militärisches Eingreifen hineingezogen
werden, eine Angst, die im übrigen auch durch die Propaganda zwischen den
Zeilen extrem geschürt wurde, besonders im Herbst 1980 und nochmals im