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Schließlich – damit komme ich auf die Frage, die mir Markus Meckel gestellt
hat – haben auch Stimmen aus Polen dazu beigetragen, daß es wenigstens
bei Teilen der Opposition zu einem allmählichen Umdenken in der deutschen
und in der europäischen Frage gekommen ist. Der Status quo der Teilung galt
in beiden deutschen Staaten als unveränderlich. Im Osten wurde er trotz des
Leidensdrucks resignativ hingenommen. Im Westen war er trotz der Rhetorik
an bestimmten Feiertagen gesellschaftlich akzeptiert. Die Ordnung von Jalta
schien, zumal vor dem Hintergrund der Ostpolitik in den 70er Jahren, die
auch wir enthusiastisch begrüßt hatten, der unverrückbare Grundriß Nach-
kriegseuropas zu sein. Wir mußten also aus diesem Geschichtsdeterminismus
und Geschichtsfatalismus herauskommen. Wir mußten Alternativen überhaupt
erst wieder denken lernen. Allein angewiesen auf deutsch-deutsche Kontakte
hätten wir wohl kaum begriffen, daß z. B. die Frage der deutschen Schuld
nicht instrumentalisiert werden darf, um die Teilung Deutschlands und auch
die Teilung Europas akzeptierend oder gar rechtfertigend auf längere Sicht in
Kauf zu nehmen.
Über das Denken der polnischen Opposition, das in Grundzügen bekannt war
und das auch in einzelnen Kreisen besprochen wurde, hat Artur Hajnicz eben
berichtet. Ich beschränke mich auf ein weiteres, besonders charakteristisches
Beispiel. Wladyslaw Bartoszewski bekam den Friedenspreis des deutschen
Buchhandels 1986 in Frankfurt. Er sagte dort das Folgende:
„Die Generation, der ich angehöre, hat mit eigenen Augen die Mauern
und Drahtverhaue gesehen, welche die Menschen trennten: die Mauern
und Ghettos von Warschau und anderswo, die Mauer, die jahrelang durch
Jerusalem lief, und die Mauer, die bis heute Berlin teilt. Es scheint das
Wichtigste zu sein, all das zu unterstützen, was die Menschen verbindet,
und sich all dem zu widersetzen, was die Menschen gegen ihren Willen
trennt.“
Mir scheint es, meine Damen und Herren, noch heute unmöglich, jemand von
uns hätte unbefangen einen solchen Satz sagen können, nicht weil wir ihn
ablehnten, sondern weil niemand sicher sein konnte, ihn hinreichend gegen
Mißverständnisse abzusichern. Mit der Nennung des Warschauer Ghettos
und der Berliner Mauer in einem Atemzug hätte die Opposition in der
DDR keinen halbwegs kultivierten Historikerstreit ausgelöst. Sie hätte statt
dessen den Staatsanwalt auf den Plan gerufen. Aber mehr noch: Sie hätte
sich auch die Sympathien eines großen Teils der Kirche und der kulturellen
Elite verscherzt und wohl noch weiter die ohnehin schwache Unterstützung
aus dem Westen verloren. Bartoszewski ging es natürlich nicht um die
Relativierung der deutschen Kriegsverbrechen, sondern um angemessene
politische Konsequenzen, die wir aus dieser Geschichte zu ziehen haben. In
dieser Hinsicht war die Botschaft aus Warschau, aus Prag und aus Budapest
im Laufe der Jahre immer eindeutiger. Sie lautete: Wenn ihr die Teilung
weiter fatalistisch akzeptiert, begebt ihr euch nochmals auf einen deutschen
Sonderweg. Es war für uns von fundamentaler Bedeutung, daß die polnischen
Intellektuellen und Publizisten, die als erste unter den Stiefeln der Wehrmacht
und dem Terror der Sonderkommandos gelitten hatten, in dieser Logik
argumentierten.
Zusammenfassend: Die Einflüsse der Solidarnosc und ihres kulturellen Kon-
textes auf die DDR sind vielfältig und jedenfalls nicht auf die vielzitierten
zynischen Abwehrversuche der SED zu beschränken. Ich sage auch, daß sie
bis heute weiterwirken, selbst wenn sie im politischen Alltag kaum zur Geltung
kommen. Keine Freiheit ohne Solidarität – ne ma wolnosc bez solidarnosci –:
Das war eine polnische Lektion der 70er und 80er Jahre, ich meine, eine Lek-
tion für ganz Europa, für die wir Ostdeutschen besonderen Dank schulden. Auf
diese Überzeugung und Erfahrung stützte sich die Idee der Bürgergesellschaft.
Auch sie ist mehr als nur ein Kampfbegriff der früheren Opposition. Wenn die
Freiheit bewahrt werden soll, dann hat auch heute das Ethos der Solidarität
seine moralische Substanz und seine politische Relevanz meines Erachtens
nicht eingebüßt. (Beifall)
Gesprächsleiter Markus Meckel (SPD): Herzlichen Dank, Ludwig. Ich
will mit Blick auf die Uhr ohne irgendeinen Kommentar zu dem letzten
Einführungsbeitrag von Timothy Garton Ash überleiten.
Timothy Garton Ash: Ich glaube, das meiste ist schon gesagt worden.
Ich möchte nur drei kurze Bemerkungen zum Zusammenhang zwischen
Entspannungspolitik und der Entstehung der Solidarnosc machen.
Ohne Entspannungspolitik keine Solidarnosc. Ohne KSZE keine Solidarnosc.
Ohne Ostpolitik keine Solidarnosc. Es liegt auf der Hand, daß die Hauptursa-
chen innenpolitische und osteuropäische waren. Ich glaube allerdings, daß die
Entspannungspolitik in dreierlei Hinsicht die Solidarnosc mitverursacht hat.
Zum einen bin ich davon überzeugt, daß die viel größeren Reisemöglichkeiten
gerade für polnische Bürger in den 70er Jahren – die Zahl der Reisen sind
mächtig angestiegen – dazu beigetragen haben, daß man über die eigene Wirk-
lichkeit noch mehr desillusioniert war und der magnetischen Anziehungskraft
des Westens noch mehr unterlegen war und daß insbesondere das Feindbild
Deutschland, das gerade in Polen in den 70er Jahren noch sehr wirksam war,
allmählich verblaßte. Zum zweiten gab es für die Opposition die Möglichkeit
der Berufung u. a. auf die KSZE. Nur glaube ich, daß die besondere Bedeutung
der KSZE in dieser Hinsicht gerade in Deutschland oft überbewertet wird. Es
ist aufgefallen, daß Anna Sabatova sehr betont hat, daß sich die Charta 77 auf
die UNO-Menschenrechtserklärungen berufen hat. Das KOR hat sich u. a. –
aber eben nur unter anderem – auf die KSZE berufen. Das steht in keinem
unmittelbaren Zusammenhang mit der KSZE. Die Danziger Forderungen im
August 1980 haben sich auf die Internationale Arbeitsorganisation berufen und
eben nicht auf KSZE. Wenn es ein internationales Dokument von überragender