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Wahlperiode 13, Band I, Seiten 686 und 687
686
Enquete-Kommission

schen Option. Dieselbe Uneindeutigkeit wiederholte sich bei der zweiten Ber-
lin-Krise 1958–61. Sollte die Aufwertung der DDR erreicht werden, oder
sollten die Westmächte, insbesondere die USA, zu sicherheits- und rüstungs-
relevanter Kooperation genötigt werden, wobei Berlin nur der Hebel war? Für
die letztere Deutung sprechen, daß Ost-Berlin an der Abfassung der Einlei-
tungsnote vom November 1958 nicht beteiligt wurde und Chruschtschow im
weiteren Verlauf der Krise seine eigenen Ultimaten nicht ernstnahm. In beiden
Fällen, falls Kooperation – 1948 im Sinne der gesamtdeutschen Option, 1958
im Sinne von Koexistenzpolitik – beabsichtigt war, muß die Methode befrem-
den, Kooperationswilligkeit auf der Gegenseite durch Druck und Erpressung
erzielen zu wollen. Eine Vorabkalkulation im Hinblick auf die Folgen der
Methode scheint unterblieben zu sein, ein Fehler, der sich insofern als gravie-
rend herausstellte, als Druck und Erpressung auf westlicher Seite Wider-
standswillen und -kräfte mobilisierten, die den sowjetischen Zielen den Weg
verlegten. Bei der zweiten Berlin-Krise kam hinzu, daß die sowjetischen Dro-
hungen im Verein mit inneren Entwicklungen der DDR (Kollektivierung der
Landwirtschaft) diese in eine innere Krise stürzten, der im August 1961 mit
dem Bau der Berliner Mauer abgeholfen wurde.

Für die DDR endete die zweite Berlin-Krise 1964 nicht mit einem – wie von
Chruschtschow angedroht – Friedensvertrag, der die sowjetischen Vorbehalts-
rechte abgelöst hätte, sondern mit einem ersten Freundschaftsvertrag mit der
Sowjetunion. Er ließ zwar die sowjetischen Vorbehaltsrechte unangetastet, be-
scherte der DDR aber eine sowjetische Existenzgarantie. Damit war ein langer
Weg aus dem Status der Besatzungszone zu dem eines Mitglieds der sozialisti-
schen Staatengemeinschaft zurückgelegt. Die Führer der Sowjetunion, die ei-
nen mehr, die anderen weniger, mochten in den vierziger und frühen fünfziger
Jahren die Herausbildung eines eigenen Klientelstaates auf deutschem Boden
als zweitbeste Lösung angesehen haben. Gleichzeitig aber hatten sie ungedul-
dig und geradezu zwanghaft in ihrer Besatzungszone gesellschaftliche und po-
litische Zustände eingeführt bzw. einführen lassen, die sie lange vor der
Staatsgründung und danach notwendigerweise mehr und mehr an diese Lösung
banden und ihre Dispositionsmacht de facto einschränkten. Möglicherweise
haben sie die Konsequenzen ihres Handelns nicht einsehen wollen oder kön-
nen, ihren deutschen Helfern und Bundesgenossen blieben sie nicht verborgen.
Unter dem Schirm der Einheitsparolen betrieben sie aus Interesse und Über-
zeugung die Sowjetisierung der SBZ/DDR, im Vertrauen darauf, daß der so-
wjetischen Vormacht ungeachtet gelegentlicher Anwandlungen (zuletzt 1953)
der Spatz in der Hand allemal lieber sei als die Taube auf dem Dach.

So entstand ein Verhältnis gegenseitiger Angewiesenheit zwischen der Sie-
germacht und ihren politisch-ideologischen deutschen Freunden, das im Kern
bis zum Ende der SED-Herrschaft anhielt. Die schwächere Seite, die SED,
wußte, was sie dem sowjetischen Protektor schuldig war und gerierte sich
später, in den sechziger und siebziger Jahren, gern als dessen Juniorpartner ge-
genüber anderen „Bruderstaaten“. Ihre Schwäche jedoch wußte sie auch als
Vorteil auszunutzen, um von Moskau, insbesondere nach den Krisen von 1953

687
Schlußbericht

und Anfang der sechziger Jahre, Vergünstigungen zu erwirken. Immerhin ver-
ankerte die DDR im Zuge der Verfassungsrevision von 1974 in Artikel 6 das
Bekenntnis in ihrer Verfassung, „für immer und unwiderruflich mit der Union
der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet“ zu sein. Allem Anschein nach
haben die Entspannungspolitik und ihre Umsetzung in die innerdeutsche Ver-
tragspolitik später zu einem Zwiespalt im Verhältnis der DDR zur Sowjetunion
geführt, ablesbar an der Entmachtung Ulbrichts zu Beginn der siebziger Jahre
und dem öffentlich ausgetragenen Konflikt um die innerdeutsche Interessen-
politik der DDR unter Honecker um die Mitte der achtziger Jahre. Die UdSSR
selber hatte diese Politik inauguriert, die der DDR die lange ersehnte interna-
tionale Anerkennung und zur Bundesrepublik ein „geregeltes Nebeneinander“,
wenn auch unterhalb der Schwelle der völkerrechtlichen Anerkennung, ver-
schaffte. Kaum daß es installiert war, wurde das innerdeutsche Verhältnis zur
Quelle nie mehr erlahmenden sowjetischen Mißtrauens gegenüber der SED-
Führung. Es wuchs ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahre in dem Maße, wie
die sowjetische Fähigkeit zur wirtschaftlichen Unterstützung der DDR wie der
anderen „Bruderstaaten“ nachließ, was wiederum die DDR nötigte, mehr und
mehr in ein Sonderverhältnis zur Bundesrepublik hineinzugleiten, mochte sie
es auch nach außen unter dem Schirm der mit der Sowjetunion gemeinsamen
„Friedenspolitik“ verbergen. Zerrüttet wurde das bilaterale Verhältnis voll-
ends, als die Sowjetunion unter Gorbatschow dazu überging, es der DDR in
puncto Interessenpolitik gegenüber dem Westen gleichzutun. Damit endete ei-
ne Beziehung, die nie „organisch“ werden konnte, da sie beide Seiten im
Grunde überforderte. Krankte der SED-Staat an einem unheilbaren Legitimi-
tätsdefizit, so erwies sich die Sowjetunion als außerstande, unter den Prämis-
sen des Ost-West-Konflikts, der die Systemauseinandersetzung einschloß, die
ihr nach dem Zweiten Weltkrieg zugefallene Einflußzone zu stabilisieren und
in ihrer europäischen Maßstäben genügenden Entwicklung befriedigend zu
fördern.

 

2.2 Politische Repression in der DDR

2.2.1 Politische Verfolgung als Systemelement der SED-Diktatur

„Der SED-Staat war eine Diktatur. Er war dies nicht durch Fehlentwicklung
oder individuellen Machtmißbrauch – der kam im einzelnen hinzu –, sondern
von seinen historischen und ideologischen Grundlagen her.“ Diese Feststellung
im Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 16. Juni 1994 trifft auch auf die politische
Verfolgung durch die DDR zu, die als eine „ideologisch motivierte Verfol-
gung“ (Expertise Bouvier) zu begreifen ist. Sie war konstitutiver Bestandteil
eines Herrschaftssystems, das auf Repression zur Sicherung seiner Macht und
seines Monopolanspruchs nicht verzichten konnte. Jede Untersuchung der Fra-
ge, wie sich die Unterdrückungsmaßnahmen im einzelnen gestalteten, hat zu