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Wahlperiode 13, Band III/1, Seiten 138 und 139
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Protokoll der 29. Sitzung

Buch ist ihm der Sturm auf die Bastille nicht eine halbe Seite wert, und der
Schusterjunge mit der roten Fahne auf der Barrikade taucht gar nicht erst auf.
In seiner Schrift wird hart abgerechnet mit Ernteergebnissen, Klimaerschei-
nung, Lebensgewohnheiten u. dgl. Ich denke, die Zeit muß noch kommen, wo
die nötige Nüchternheit zur Bewältigung des Vergangenen einzieht.

Für einen neuen Tocqueville könnte die deutsche Teilung und ihre glückhafte
Überwindung eine einmalige Analysemöglichkeit über das Wesen des Men-
schen und seiner Geschichte darstellen. Ist es nicht so, als wären 1949 zwei
genetisch gleiche und gleichzeitig existierende Pflanzen unter den Händen ver-
schiedener Züchter in zwei unterschiedlich beheizten Gewächshäusern mit
unterschiedlicher Nährstoffzufuhr aufgezogen worden? 1989 wurden die Ge-
wächshäuser geöffnet und die Pflanzen nebeneinander gestellt. Recht für Be-
troffene schaffen ist notwendig. Das kann aber nur die eine Seite der Beschäf-
tigung mit Vergangenheiten sein. Schlußfolgerungen und Lehren daraus zu
ziehen, um neues Unrecht und neue Betroffenheit zu verhindern, ist die andere
Seite. Wer das Richtschwert zieht, sollte zuvor an das Vaterunser denken.
Heißt es da nicht „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schul-
digern“? Da steht nicht, wie wir zuvor mit unseren Schuldigern zu verfahren
haben, zumal jene kaum noch leben, die mit marxistisch-leninistischen Vor-
stellungen die DDR 1949 auf den Weg gebracht hatten.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!

Gesprächsleiter Abg. Jörg-Otto Spiller (SPD): Ich schlage vor, wir machen
jetzt fünf Minuten Pause und sollten dann mit der Diskussion beginnen.

Gesprächsleiter Abg. Jörg-Otto Spiller (SPD): Nachdem die Referenten
Platz genommen haben, sollten wir mit der Diskussion beginnen. Herr Profes-
sor Schmidt hatte gegen Ende seines Referates noch darauf hingewiesen, daß
Alexis de Tocqueville sein Buch über das „Ancien régime et la révolution“ erst
50 Jahre nach der Revolution geschrieben hat. Ganz so lange sollten wir nicht
warten. Wir sollten doch versuchen, ein Stück mehr Präzision zu bringen, und
die Diskussion kann ja vielleicht nach beiden Vorträgen dazu beitragen. Als
erstes hat sich Herr Dr. Jork gemeldet.

Abg. Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Dankeschön, ich möchte meine er-
ste Frage an Herrn Professor Schmidt richten. Er hat gesagt, daß das gesell-
schaftliche Sein das Bewußtsein prägt als eine der Grundmaxime und Erkennt-
nisse des Marxismus. Wir haben das hier früher erlebt, und für mich steht fol-
gende Frage im Zusammenhang mit dem Vortrag: Wie wirkt die Erkenntnis
heute in dem Verhalten der Menschen und auch in den Erwartungen und Ent-
täuschungen – die sind ja in den 40 Jahren geprägt worden – fort?

Eine zweite Frage richtet sich auch an Herrn Professor Schmidt. Wir haben
vom Zugriff gesprochen, der durch die Zentralwirtschaft möglich war. Dieser
Zugriff betraf auch die Forschung und die Möglichkeit, Aufgaben im Zusam-
menhang mit technischer Entwicklung z. B. an die Akademie der Wissen-
schaften, an die Hochschulen zu geben und koordinierend zu wirken. Wie

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Wirtschaft – Sozialpolitik – Gesellschaft

funktionierte diese Koordinierung, auch angesichts der Schwierigkeiten, die
wir bei der Innovation, bei der Forschungspolitik in den neuen Bundesländern
jetzt haben? Danke.

Gesprächsleiter Abg. Jörg-Otto Spiller (SPD): Ich würde vorschlagen, daß
wir vielleicht gleich Herrn Professor Schmidt antworten lassen.

Prof. Dr. Reinhard Schmidt: Die marxistische These, daß der Mensch als
tabula rasa, als vollkommenes Neutrum geboren wird und erst durch die Erzie-
hung zu dem wird, was er später darstellt, ist nicht haltbar. Darüber besteht in
der Psychologie Einigkeit. Der Marxismus geht dagegen davon aus, daß man
die Umstände für das Sein notfalls mit Gewalt diktieren kann, um den Men-
schen nach sozialistischem Idealbild zu erhalten. Die Marxisten waren wie
Musiklehrer die behaupten, jeder Mensch kann bei entsprechender Ausbildung
singen, um dann nach 20 Jahren feststellen zu müssen, daß dem nicht so ist.
Die These „Das Sein bestimmt das Bewußtsein“ gehörte zu den Rechtfertigun-
gen der Enteignung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln sowie an Grund
und Boden. Jene sollten, brutal durchgesetzt, die Ausbeutung des Menschen
durch den Menschen nach marxistischen Vorstellungen aus der Welt schaffen.

Zweitens zur Frage nach den Beziehungen zwischen Forschung und Planwirt-
schaft: Technischer Fortschritt besteht sehr wesentlich darin, daß die zunächst
mit Muskel und Hirn verrichtete körpergebundene Arbeit den Maschinen und
Automaten übertragen wird. Wenn aber eine Planwirtschaft den Zähler – also
das zählbare Ergebnis – festlegt, stellt jedes, unerwartet eintretende For-
schungsergebnis einen Eingriff in die Planung dar. Eine Folge des Festhaltens
an der Planung ist somit zwangsläufig eine verzögernde Anwendung der Er-
gebnisse.

Darüber hinaus war die DDR-Führung von einem Eigenwertverlust gekenn-
zeichnet. Sie wartete Entscheidungen ab, bis im Ausland ähnliche durch das
Forschungsergebnis vorgezeigte Wege beschritten wurden. Oft führte erst der
Hinweis auf ein im Ausland existierendes Ergebnis – zum Beispiel unter dem
Motto „Texas Instruments“ arbeitet ähnlich – dann zu einer positiven Ergeb-
nisakzeptanz und im negativen Sinne zu einer Akzeptanz einer bis zu vierjäh-
riger Phasenverschiebung der Einführung des Forschungsergebnisses. Aus ei-
genem Erleben kenne ich derartige Vorfälle im Zusammenhang mit der Si-
Kristallproduktion, als eine der technologischen Voraussetzungen der Elektro-
nikindustrie der 60er Jahre.

Nicht zuletzt entstand auf diese Weise eine beträchtliche Forschung für den
Papierkorb. Wie viele Forschungsergebnisse sind darin verschwunden? Aus
Sicht der Hochschulen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ist es schon er-
staunlich, wie hoch der Erkenntnisstand in den Naturwissenschaften dennoch
war. Er fand nur keine Verwertung. Wenn wir jetzt auf die Kollegen der ehe-
mals anderen Seite treffen, stellen wir oft etwas brüskiert fest, daß deren Er-
kenntnisstand nicht höher war, trotz besseren Bedingungen.

Gesprächsleiter Abg. Jörg-Otto Spiller (SPD): Herr Vergin bitte.