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2. Podiumsgespräch: „Alltagserfahrungen“ unter der Leitung von Martin-Michael Passauer | 184 |
Edeltraut Pohl | 185 |
Michael Beleites | 186 |
Jutta Seidel | 188 |
Herbert Wolf | 189 |
Publikum: Roland Bude – Peter Alexander Hussock – Herr Köhler – Herr Seidel – Peter Stimming | 197 |
Diskussion | 204 |
Vorsitzender Rainer Eppelmann: Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich die vierte öffentliche An-
hörung der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen
der SED-Dikatur in Deutschland“ eröffnen.
Weil die Frage aufgetaucht istmöchte ich es gern noch einmal sagen:
Es ist tatsächlich die vierte öffentliche Anhörung. Wir hatten die erste
und zweite zu Fragen der Regierungs- und Funktionärskriminalität und
einen Meinungsaustausch mit anderen Gruppen und Initiativen am 29. und
30. September 1992 in Leipzig. Wir hatten in der letzten Woche die dritte,
eine ebenfalls öffentliche Anhörungin Bonn. Heute ist die erste öffentliche
Anhörung in Berlin. Ihr wird schon im Januar eine zweite öffentliche
Anhörung folgen. Auch das vielleicht noch zu Einstimmung: Die Enquete-
Kommission ist heute zum zwanzigsten Mal als Enquete-Kommission zu
einer Sitzung zusammengekommen. Thema soll heute sein: „Die SED-Diktatur
– politischegeistige und psychosoziale Unterdrückungsmechanismen bzw.
Erfahrungen im Alltag“.
Wir sehen unsere Aufgabe nicht darindie Geschichte der SBZ/DDR zu
schreiben. Es ist auch nicht unsere HauptaufgabeSchuld aufzuspüren und
diese zuzuweisen. Diese Kommission soll keine juristischen Verurteilungen
aussprechensie soll aber auch keine Auszeichnungen für besonders vorbild-
haftes Verhalten in schwieriger Zeit verleihen.
Die Aufgabe der Enquete-Kommission ist es vielmehrdie Kenntnisse über
daswas die DDR warzu vermehrenzu intensiven Analysen einer unterge-
gangenen Wirklichkeit anzuregen und zu einer politischen Bewertung dessen,
was die DDR ausmachteden Weg zu ebnen und sie zum Teil auch selbst
vorzunehmen. Als Ziel der Kommissionsarbeit ist ein Bericht vorgesehenin
dem die Ergebnisse der Expertisen sachkundiger Wissenschaftler und Zeitzeu-
gen sowie die von der Kommission veranstalteten öffentlichen Anhörungen
zusammengefaßt werden sollen. Die politische Zielsetzung dieses Berichtes
soll darin bestehen, dem Gesetzgeber konkrete Vorstellungen darüber zu
unterbreiten, wie geschehenes Unrecht, zumindest zum Teil, wiedergutgemacht
oder gemildert werden kann und wie Gerechtigkeit oder wenigstens ein
bißchen mehr Gerechtigkeit hergestellt werden soll. Dabei wird es nicht
ohne präzise Feststellungen auch zum Thema der politischen und moralischen
Schuld in Deutschland abgehen können.
In der Anhörung, die uns heute und morgen mit den politischen, den
geistigen und psychosozialen Unterdrückungsmechanismen der SED-Diktatur
konfrontieren wird, geht es vor allen Dingen darum, typische Vertreter der 16
Millionen Ostdeutschen vor dem Forum einer größeren Öffentlichkeit zu Wort
kommen zu lassen. Deshalb, weil es bei dieser Anhörung um die allgemeinen
Erfahrungen des DDR-Alltags geht, kommt den Zeitzeugen, die uns berichten
wollen, besondere Wichtigkeit zu.
Darum auch an dieser Stelle schon einen herzlichen Dank all denen, die sich
dazu bereit erklärt haben, öffentlich von ihren Erfahrungen zu berichten und zu
erzählen. Ihre Aussagen werden dem, was die Wissenschaftler hier vortragen
werden, unverzichtbare Elemente der Authentizität hinzufügen. Es soll und
es wird bei dieser Anhörung also nicht so sehr um die spektakulären Dinge
gehen, an denen es in der Geschichte der DDR nun wahrlich auch nicht gefehlt
hat, sondern wir wollen in diesen Anhörungen das alltägliche Leben der DDR
so in Erinnerung rufen, daß wir als ehemalige Bürger dieses Staates und als
Bürger der alten Bundesrepublik, deren Leben ja uch auf vielfältige Weise
verbunden war, sagen können: So war das normale Leben in der normalen
DDR.
Gewiß bezeichnet schon die Themenformulierung dieser Anhörung ein
Problem. Waren die politischen, die geistigen und psychosozialen Unter-
drückungsmechanismen der SED-Diktatur tatsächlich Erfahrungen im Alltag
breiterer Bevölkerungsschichten der DDR? Im Lebensbericht eines älteren
Arbeiters in der DDR las ich das folgende Resümee eines gewiß nicht
einfachen Lebens: „Ich möchte grob sagen: Ich habe gelebt, um meine Familie
zu ernähren und zu unterhalten und uns einigermaßen ein wohnliches Zuhause
zu machen. Das war der Hauptsinn.“
Bis in den Herbst 1989 konnte es so scheinen, als ob dieser Standpunkt tatsäch-
lich von einer übergroßen Mehrheit geteilt wurde. Der Rückzug ins Private,
das Arrangement mit den Mächtigen in den Betrieben, Schulen, Universitäten
und Behörden, die Spaltung des Bewußtseins in ein öffentlich vorgeführtes
und das des privaten Lebenskreises in der Familie, im Freundeskreis oder
auch im engeren Arbeitskreis oder der Kirche, die Resignation angesichts
der vielen Unmöglichkeiten in der DDR und auch die kleinen Tricks, mit
denen man sich das Leben erleichtern konnte – waren das nicht die typischen
Erfahrungen im Alltag der DDR? Waren das nicht die Farben, der Stil und der
Geruch des ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates auf deutschem Boden? Konnte