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Wahlperiode 12, Band V/1, Seiten 78 und 79
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Protokoll der 46. Sitzung

der Außenpolitik der Zwischenkriegszeit, des Widerstandes und der national-
sozialistischen Judenverfolgung verfaßt haben.

Hermann Graml: Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren! Bedeutende
politische Ereignisse verändern nicht nur Gegenwartsbild und Zukunftserwar-
tung der Zeitgenossen, sondern auch ihre Wahrnehmung der Vergangenheit.
Meist entfernt sich dabei die Wahrnehmung von der gewesenen Realität. So ist
es nicht sonderlich überraschend, daß uns die Vereinigung der lange getrennten
Teile Deutschlands eine Flut von ahistorischen Urteilen über die Geschichte
sowohl der Bundesrepublik Deutschland wie der Deutschen Demokratischen
Republik beschert, zumal hier Emotionen im Spiele sind, die mit einer
wohl nicht zu unterdrückenden Gier nach neuer Deutung der Vergangenheit
verlangen. Gerade die entscheidenden Bedingungen der deutschen Geschicke
nach dem Zweiten Weltkrieg drohen aus dem Blick zu geraten. So führt die
Vorstellung in die Irre, die Wahl anderer als der tatsächlich beschrittenen
Wege sei für die Deutschen im Grunde eine Willensfrage gewesen. Zumindest
im ersten Jahrzehnt nach Kriegsende stand die politische Entwicklung in
Deutschland in Wirklichkeit unter Gesetzen, die den Deutschen die Freiheit
der Entscheidung zunächst vollständig und dann noch eine ganze Weile fast
vollständig nahmen.

Die deutsche Nachkriegsgeschichte beginnt ja nicht mit der Bildung zweier
deutscher Teilstaaten im Herbst 1949; sie beginnt vielmehr am 7. Mai 1945
um 2.41 Uhr, als Generaloberst Jodl, Chef des Wehrmachtführungsstabes,
im Hauptquartier von General Eisenhower, dem Oberbefehlshaber der west-
lichen alliierten Streitkräfte in Europa, die bedingungslose Kapitulation der
Deutschen Wehrmacht unterzeichnete. Der Anlauf des nationalsozialistischen
Deutschland unter Hitler, vorerst Europa seiner Herrschaft zu unterwerfen
und ein auf die Landmasse zwischen Atlantik und Ural gestütztes Imperium
zu errichten, war definitiv gescheitert, damit auch der nationalsozialistische
Versuch, Liberalismus und Parlamentarismus in Europa zu beseitigen, alle
Erscheinungsformen des Sozialismus und eines Kommunismus marxistischer
Observanz zu vernichten und an ihre Stelle einen Totalitarismus biologistisch-
rassistischer Prägung zu setzen. Zugleich machte die Kapitulation jede Fort-
setzung des mit den beiden ersten Zielen aufs engste zusammenhängenden na-
tionalsozialistischen Ausrottungsfeldzugs gegen die im deutschen Macht- und
Einflußbereich lebenden Juden unmöglich. Nach langen Jahren der politischen
und dann zunächst auch militärischen Defensive hatten die parlamentarischen
Demokratien des Westens und die stalinistische Sowjetunion nicht nur ihre
Existenz behauptet, sondern einen totalen Sieg errungen.

Als sofortige politische Folge der Kapitulation erlosch zunächst einmal so-
gar die staatliche Existenz Deutschlands. Die Regierungsgewalt in Deutsch-
land übernahmen nun die in Europa dominierenden Mächte der Alliierten:
Großbritannien, Sowjetunion, USA und Frankreich. Mit einer am 5. Juni 1945

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Internationale Rahmenbedingungen

veröffentlichten Proklamation stellten die vier Mächte die Übernahme offiziell
fest; als Regierung des total besetzten und in vier Besatzungszonen geteilten
deutschen Territoriums sollte der Alliierte Kontrollrat in Berlin fungieren, der
aus den vier Oberbefehlshabern der in Deutschland stationierten Besatzungs-
truppen bestand. Mit diesem Akt setzten die Alliierten ihre Entschlossenheit in
die Tat um, neben der militärischen zugleich die unumschränkte politische Ver-
fügungsgewalt über Deutschland zu beanspruchen. Der Anspruch wiederum
folgte aus einem Sicherheitsbedürfnis, das durch den erneuten deutschen „Griff
nach der Weltmacht“ aufs äußerste gereizt worden war und jetzt nach totaler
Befriedigung verlangte. Erbittert durch die außerhalb der deutschen Grenzen
nirgends ernstlich bezweifelte Verantwortung Deutschlands sowohl für den
Ersten wie für den Zweiten Weltkrieg und tief erschreckt durch die Kraftent-
faltung, zu der sich die deutsche Gesellschaft in beiden Kriegen fähig gezeigt
hatte, stimmten in allen Siegermächten Bevölkerung und Politiker vorerst darin
überein, daß brutaler Expansionismus ein Wesensmerkmal deutscher Politik
sei und daß gegen eine Aggressivität, der ein so bedeutendes Potential zur
Verfügung stehe, außergewöhnliche Vorkehrungen getroffen werden müßten.
Die Verbrechen, die von den Organen des NS-Regimes in allen während
des Krieges besetzten Ländern verübt worden waren, wirkten als zusätzli-
ches Stimulantium des Sicherheitsbedürfnisses und lieferten der Anwendung
nahezu jeglicher Befriedigungsmittel das erforderliche gute Gewissen, wie die
Abtrennung großer Teile Ostdeutschlands und die Vertreibung der Masse der
Deutschen aus Polen, aus der Tschechoslowakei, aus Ungarn, aus Rumänien,
ja sogar aus den von der Sowjetunion und Polen annektierten ostdeutschen
Gebieten klar genug zeigten. Doch hielten sich die Alliierten nicht nur für
berechtigt, die Grenzen Deutschlands nach eigener Machtvollkommenheit
festzulegen; sie fühlten sich überdies berechtigt und im Interesse des Welt-
friedens sogar verpflichtet, über die internationale Orientierung wie auch über
die grundlegenden inneren Ordnungsprinzipien eines deutschen Staates oder
mehrerer deutschen Staaten zu bestimmen.

 

Der politische Wille der Deutschen und deutsche politische Interessen konnten
zunächst allenfalls eine sekundäre Rolle spielen, konnten bestätigend oder
passiv ablehnend wirken. Die Deutschen waren vorerst, ob im Osten oder
im Westen, nicht imstande, aus ihrer Abhängigkeit herauszutreten – nicht
allein aufgrund der tiefen physischen und mentalen Erschöpfung, in der
sich die Nation nach einem langen Krieg befand, und nicht allein aufgrund
der politischen Apathie, die dem lange anhaltenden Schock einer totalen
politischen und militärischen Niederlage folgte, sondern doch auch aufgrund
der bald eine wachsende Anzahl der Deutschen beeinflussenden Einsicht,
daß jedenfalls für eine Weile die Nation fremde Führung verdiente, ja ihrer
sogar bedürftig war, weil sie mit dem NS-Regime und seinen Verbrechen