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Drittens. Die Deutschlandfrage hat damals in der Tschechoslowakei in diesem
Zusammenhang auch eine gewisse Rolle gespielt. Für uns als reformkommu-
nistische Führung war die Deutschlandfrage von riesiger Bedeutung, und zwar
in zweierlei Hinsicht. Zuerst gab es für uns damals eine sich in statu nascendi
befindende Entspannungspolitik.
Die Ostpolitik von Willy Brandt war zwar noch nicht da, aber er war immerhin
schon Außenminister. Man wußte, es geht in diese Richtung. Das sage ich
nicht nur in bezug auf Deutschland, sondern das sage ich auch an die Adresse
der Amerikaner. Die Entspannung von damals ist nicht zu vergleichen mit der
Entspannung, die es 1987 oder 1988 gab.
Es war für uns damals aber eine große Hoffnung, daß es zu dieser Entspannung
kommen könnte. Wir wußten, je weiter das geht, je weniger mit der Gefahr
eines Krieges oder eines Konflikts argumentiert wird, desto mehr Raum
kriegen wir wahrscheinlich für unsere Entwicklung. Da wollten wir uns aber
nicht einmischen. Wir wollten die russischen Behörden nicht stören.
Das war aber ein Fehler. Wir haben uns so isoliert, anstatt Unterstützung zu
suchen. Dies geschah in der Befürchtung, daß wir, wenn wir international
gesehen aktiv wären, Moskau provozieren würden. Wir haben Moskau zwar
sowieso genug provoziert, aber es hätte dann auch eine internationale Stütze
gegeben. Es gab also Isolierung.
Aus dieser Sicht gesehen waren wir nicht imstande, die damals tschecho-
slowakisch-deutschen Beziehungen positiv zu bewerten und zu entwickeln.
Es herrschte sogar Angst. Obwohl der damalige Außenminister Hajek es
persönlich mehrmals wollte, ist er niemals offiziell mit einem westdeutschen
Vertreter zusammengetroffen. Es gab nur ein Mittagessen im Institut für
internationale Politik mit einer deutschen Delegation. Schon das führte dazu,
daß Ulbricht in Berlin getrommelt hat. Es hieß: Die Tschechen wollen
sich getrennt, auf eigenen Wegen und auf eigene Faust mit Deutschland
arrangieren.
Da spürte man in Moskau schon eine Gefahr. Für Moskau war es wichtig,
daß alle Verhandlungen zwischen Deutschland und dem Ostblock nur über
Moskau führten, nicht aber getrennt verhandelt wurde. Wir standen unter dem
Druck, das nicht zu verletzen. Auf der anderen Seite war die Sympathie für
die sich in statu nascendi befindende Ostpolitik sehr groß.
Ulbricht hat damals versucht, aus den deutsch-tschechischen Beziehungen
einen Konfliktgegenstand zu machen. Ich erinnere mich an die Verhandlungen
in Preßburg am 3. August, wo alle Führer anwesend waren. Auch ich war
dabei. Weil die Freunde der Sowjetunion bei uns nicht so gut russisch konnten,
war ich dort als ZK-Sekretär und als Dolmetscher. Da sagte Ulbricht – er
war persönlich immer sehr ehrgeizig –: „Ich bin nach Preßburg gekommen
und dachte, da stehen Massen, die auch die DDR begrüßen. Aber ich habe
nur gehört: ’Dubcek!’ Dubcek!’ Hängt das damit zusammen, daß ich die
tschechische Sprache nicht beherrsche?“ Damit hing es nicht zusammen.
Niemand hat gerufen: „Es lebe Ulbricht!“
Auf der anderen Seite hat er immer darauf bestanden, daß in der sogenannten
Preßburger Erklärung die Aussage steht: Der deutsche Revanchismus wird
gerade jetzt zu einem gefährlichen Faktor. Wir haben im Rahmen der
begrenzten Möglichkeiten dagegen gekämpft. Ich weiß nicht, was da steht –
es ist sowieso eine ideologische Formulierung –, aber jedenfalls nicht das
Schlimmste, was die SED-Vertreter wollten, weil wir gesagt haben: Nein,
wir haben jetzt eine internationale Etappe, wo uns keine Verschärfung der
Konflikte mit Deutschland bevorsteht. (Beifall)
Gesprächsleiter Prof. Gert Weisskirchen (SPD): Nach dem kurzen heißen
Sommer des Prager Frühlings von 1968 folgte dann der lange Winter
der „Normalisierung“, wie ja diese Periode häufig auch genannt wurde.
„Normalisierung“ mußten die in Prag erleiden und erleben, die dann begannen,
von unten her sich selbst zu engagieren und sich zu konstituieren als das, was
dann nachher in die Dissidentenbewegung führte, der Versuch, in der Wahrheit
zu leben. Ich denke an Václav Havel und andere, auch Anna Sabatova. Ich
erinnere mich ganz gut, Anna Sabatova, an die Anglicka 8, eine Wohnung in
der Nähe des Wenzelsplatzes, welche die Anlaufadresse war für Begegnungen
zwischen Ost und West, Dissidenten und denen, die auch aus dem Westen
Interesse an der Entwicklung der inneren Umgestaltung Ihres Landes und der
gesamten Region Ost- und Mitteleuropas von unten hatten.
Anna Sabatova: Das Thema, das für diese Anhörung vorgegeben wurde,
ist ziemlich breit. Ich werde zuerst etwas über das Jahr 1968 sagen. In
der Tschechischen Republik gibt es heutzutage eine gewisse Mode, die
Bedeutung des Prager Frühlings herabzusetzen und ihn als einen Kampf
zweier Machtfraktionen in der Führung der kommunistischen Partei der
Tschechoslowakei zu interpretieren; als einen Kampf, der der Mehrheit der
Menschen nicht viel zu sagen hat und der mit dem heutigen Bestreben, eine
demokratische Gesellschaft aufzubauen, nichts zu tun hat. Die Bezeichnung
„68er“ nimmt in der heutigen Publizistik in der Tschechischen Republik oft
einen abfälligen Anflug an.
Im Interesse der historischen Wahrheit ist es notwendig, solche Abqualifi-
zierungen entschieden abzulehnen. Der Prager Frühling war der erste und
im Grunde der einzige gesamttschechoslowakische Versuch, das damalige
politische System nicht nur zu verbessern, sondern es auch zu überwinden, und
zwar ein System, das in jenem Lande nach dem Februar 1948 entstanden war
und sich danach 20 Jahre lang durch das Zusammenwirken zweier Faktoren
an der Macht hielt: der Repression und dem Staatsdirigismus einerseits und
der zuerst massiven, dann immer mehr erschlaffenden Unterstützung der
Bevölkerung andererseits.
Die ganze Gesellschaft, nicht nur die Reformkommunisten, setzte sich im