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Protokoll der 49. Sitzung (öffentlicher Teil)
der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Pro-
zeß der deutschen Einheit“ am Sonntag, dem 25. Januar 1998, Beginn: 10.00
Uhr; Berlin, Kronprinzenpalais, Unter den Linden 3; Vorsitz: Abg. Rainer Ep-
pelmann
Herausforderungen und Perspektiven der Vergangen-
heitsaufarbeitung in Mittel-, Ost- und Südosteuropa
Eröffnung Rainer Eppelmann | 888 |
Jirí Gruša | 892 |
Vorträge Ist die Aufarbeitung der Vergangenheit eine notwendige Bedingung für die erfolgreiche Etablierung von Demokratie und Rechtsstaat? Richard Schröder | 895 |
Anna Wolff-Poweska | 904 |
Diskussion | 913 |
Vorsitzender Rainer Eppelmann: Sehr verehrte Gäste! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit großer Freude heiße ich Sie alle an
diesem Sonntagmorgen hier in Berlin willkommen. Mein besonderer Willkom-
mensgruß und Dank gilt unseren ausländischen Gästen und Freundendie in
großer Zahl unserer Einladung gefolgt sind. Nicht minder groß ist die Zahl der
eingeladenen Deutschendie an dem Themamit dem wir uns heute und morgen
befassen werdenbesonders interessiert sind. Auch sievielfach Mitstreiter unse-
rer Kommissionbegrüße ich auf das allerherzlichste.
Mit dieser internationalen Konferenz schließt die Enquete-Kommission die Rei-
he ihrer öffentlichen Veranstaltungen ab. Sie wird in den nächsten Monaten in
Klausur gehenum ihren Abschlußbericht zu verfassenden sie im Juni dem
Deutschen Bundestag und der Öffentlichkeit übergeben wird – so hoffen wir
zumindest. Damit wird eine Arbeit an ihr Ende gelangendie im Frühjahr 1992
mit der Einrichtung der ersten Enquete-Kommission des Bundestages „Aufar-
beitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ begann,
also insgesamt etwa sechs Jahre gedauert hat.
Das Thema dieser Sitzung bildet, so meine ich, den logischen und angemessenen
Abschluß dieser Arbeit: Herausforderungen und Perspektiven der Vergangen-
heitsaufarbeitung in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Zum Schluß ist es nur lo-
gisch und angemessen, wenn die Kommission den Blick über die deutschen
Verhältnisse hinweghebt und zusammen mit Vertretern aus Ländern, die über
vierzig Jahre Schicksalsgenossen der DDR waren, Probleme, Stand und Zweck
der Vergangenheitsaufarbeitung erörtert. Es geht zum einen um die Frage, wo
wir mit der Aufarbeitung stehen und wie sie jeweils geleistet wird, und zum an-
deren um die Frage, was wir voneinander lernen und wie wir uns gegenseitig
unterstützen können.
Wir Deutschen haben in diesem Jahrhundert zwei totalitäre Regime erlebt. Das
eine, der Nationalsozialismus, war selbstgewählt, das andere von der Sieger- und
anfänglichen Besatzungsmacht Sowjetunion implantiert, von deutschen Gesin-
nungsgenossen dann allerdings auch willig exekutiert. In ganz Europa wird heute
die Frage diskutiert, ob es zulässig ist, die faschistische und die kommunistische
Diktatur unter einem Oberbegriff zusammenzufassen, dem Begriff „totalitär“
bzw. „Totalitarismus“.
Mir scheint, am Ende dieses 20. Jahrhunderts herrscht ein großer Bedarf, das
Zeitalter auf einen Begriff zu bringen. Das 20. Jahrhundert also das Jahrhundert
der totalitären Diktaturen? Ich denke, zumindest einstweilen wird es wohl bei
dieser Begrifflichkeit bleiben. Sie hilft uns, die wir diesem mörderischen Jahr-
hundert entronnen sind, unsere Erfahrungen zu ordnen und daraus die Lehren für
die Zukunft unserer Völker zu ziehen. Diese Lehren lassen sich in wenigen
Worten zusammenfassen: Menschenrechte, Rechtsstaat, freiheitliche Demokra-
tie.
Nach 1989/1990 standen wir in Deutschland zum zweitenmal vor dem Problem,
ein totalitäres Regime juristisch, personell und politisch-moralisch aufzuarbeiten.
Doch bald schon zeigte sich, daß aus der Vergangenheitsbewältigung der West-
zonen und der frühen Bundesrepublik wenig für die neue Situation zu lernen war
und aus der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung der sowjetischen Be-
satzungszone und der frühen DDR schon gar nichts.
Das nationalsozialistische Regime war im Gefolge einer militärischen Niederla-
ge zusammengebrochen, das kommunistische im Gefolge einer demokratischen
Revolution. Nicht das ganze Deutschland stand wie 1945 vor den Resten einer
totalitären Herrschaft, sondern nur ein Teil, während der andere Teil, West-
deutschland, die Bundesrepublik, zur Aufnahme und zur Hilfestellung bereit-
stand. Diese Konstellation gab und gibt bis heute der Aufarbeitung der SED-
Diktatur ihr eigenes Gepräge, aber auch – wie ich hinzufügen muß – spezifische
Probleme.
Die Protagonisten der Bürgerbewegung, die 1989/90 die SED-Diktatur mit zu
Fall brachte, schrieben gleich nach dem Umbruch das Thema Aufarbeitung auf
ihre Fahnen. Vor allen Dingen sorgten sie dafür, daß die Akten des Staatssicher-
heitsdienstes der DDR für die Betroffenen geöffnet wurden. Dies geschah durch