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Protokoll der 44. Sitzung
der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Pro-
zeß der deutschen Einheit“ am Montag, dem 10. November 1997; Beginn:
10.00 Uhr; Berlin, Informationszentrum zur Hauptstadtplanung (ehem. Staats-
ratsgebäude), Schloßplatz 1; Vorsitz: Abg. Siegfried Vergin
Öffentliche Anhörung zu dem Thema
Demokratische Erinnerungskultur
Inhalt
Eröffnung Siegfried Vergin | 102 |
Vorträge Erinnern in der Demokratie Klaus von Dohnanyi | 105 |
Joachim Gauck | 110 |
Bernhard Vogel | 127 |
Diskussion | 134 |
Vortrag Lebendige Erinnerungskultur in der Demokratie Reinhard Rürup | 149 |
Vortrag Geschichtsbilder und Geschichtsvermittlung in historischen Museen Hermann Schäfer | 157 |
Diskussion | 162 |
Kurzvorträge Klaus-Dietmar Henke – Peter Reichel – Manfred Overesch – Peter Fi- scher | 180 |
Diskussion | 199 |
Vorsitzender Siegfried Vergin: Sehr geehrter Herr von Dohnanyisehr ge-
ehrter Herr Gauckliebe Kolleginnen und Kollegen der Kommission und sehr
geehrte Damen und Herren. „Wir Deutschen waren heute Nacht das glücklich-
ste Volk der Welt“so freute sich am 10. November 1989heute vor acht Jah-
ren, der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper. In
der Nacht zuvor war die Berliner Mauer gefallen, jene mörderische Grenze, die
die Kommunisten schamlos „antifaschistischer Schutzwall“ nannten. „Jetzt
wächst zusammen, was zusammengehört“ rief Willy Brandt den Berlinerinnen
und Berlinern zu. Die Nacht der Freude der Berlinerinnen und Berliner wurde
zum Beginn der Vereinigung Deutschlands.
„Es ist tiefe, tiefe Nacht (...) ich will niederschreiben (...) wie man uns zu
Grunde gerichtet hat“, notierte die Berliner Ärztin Hertha Nathorff am
10. November 1938, also heute vor 59 Jahren, in ihr Tagebuch, „ich will mich
legen, das Licht löschen, wie heute in mir ein heilig glühend Licht ausgelöscht
wurde, mein Glauben, daß der Mensch doch gut sei.“ In der Nacht zuvor hat-
ten Deutsche die Gotteshäuser ihrer jüdischen Landsleute geschändet, tausende
Geschäfte zerstört und Menschen in den Selbstmord getrieben. In den folgen-
den Wochen beschlossen die Spitzen des NS-Staates jenen Weg, der im Völ-
kermord endete, ein Weg, den allzu viele Deutsche bereitwillig mitgingen.
Alljährlich erinnert uns der 9. November an diese Gegensätzlichkeit der deut-
schen Geschichte. Kein anderer Tag steht so eindrücklich für die deutsche Ge-
schichte des 20. Jahrhunderts. An diesem Tag müssen wir diese ganze Ge-
schichte annehmen, wir dürfen keiner Erinnerung ausweichen.
Wie gehen wir heute in einem vereinten und demokratischen Deutschland mit
diesem Tag, mit unserer Geschichte überhaupt um? Darüber wollen wir heute
gemeinsam nachdenken. Gedenktage, meine Damen und Herren, machen Er-
innerung konkret. Gemeinsam mit den Gedenkstätten an authentischen Orten
verlangen sie das genaue Hinsehen, sie fordern und erfordern Wahrhaftigkeit.
Dies ist im Grunde der Kern einer demokratischen Erinnerungskultur, nach der
wir heute fragen. Wir dürfen die Erinnerung nicht durch Interpretationen ver-
stellen oder gar durch ideologische Vorgaben verbiegen. Erinnern in der De-
mokratie heißt, sich der ganzen Wahrheit zu stellen. Das Grundprinzip der de-
mokratischen Erinnerungskultur ist Aufklärung, denn Aufklärung steht gegen
Lügen und Legenden.
Der stärkste Pfeiler in dieser demokratischen Erinnerungskultur sind die Ge-
denkstätten an den authentischen Orten beider Diktaturen. Dort soll das Ergeb-
nis seriöser Forschung genau dokumentiert werden. Die Schicksale der Opfer
berühren aber auch unmittelbar unser menschliches Empfinden, sie wecken
Scham und Trauer. Viele Gedenkstätten sind auf dem Boden riesiger Friedhö-
fe. Sie sind dem Andenken der Völker Europas verpflichtet. Heute und noch
viel mehr in der Zukunft sind Gedenkstätten unersetzbar. Sie entwickeln sich
verstärkt zu modernen zeithistorischen Museen, aussagekräftiger als insze-
nierte Museen am beliebigen Ort.
Gerade gestern konnte ich selbst zweifach die Aussagekraft authentischer Orte
erleben: in der Gedenkstätte Sachsenhausen wurde die Ausstellung zur Ge-
schichte der jüdischen Häftlinge des KZ Sachsenhausen eröffnet, in jenen Ba-
racken, die Neo-Nazis vor fünf Jahren in Brand steckten. In Berlin wurde fast