Fehler melden / Feedback
Protokoll der 47. Sitzung
der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-
Diktatur in Deutschland“ am Mittwoch, dem 13. Oktober 1993; Beginn: 09.00
Uhr; Berlin, Reichstagsgebäude; Vorsitz: Abg. Rainer Eppelmann (CDU/
CSU); einziger Punkt der Tagesordnung: Öffentliche Anhörung zu dem
Thema
„Internationale Rahmenbedingungen der
Deutschlandpolitik 1949–1989“
Inhalt
Eröffnung Rainer Eppelmann | 133 |
Podium „Der Prager Frühling 1968 und seine Folgen in der CSSR, in den sozialistischen Nachbarländern, insbesondere in der DDR und der VR Polen, sowie im Ost-West-Verhältnis“ unter der Leitung von Gert Weisskirchen | 135 |
Zdenek Mlynar | 136 |
Anna Sabatova | 141 |
Gerd Poppe | 145 |
Timothy Garton Ash | 151 |
Diskussion | 156 |
Podium „Solidarnosc 1980/1981 und die Folgen in Polen, in den sozialisti- schen Nachbarländern, insbesondere in der DDR, sowie im Ost- West-Verhältnis“ unter der Leitung von Markus Meckel | 197 |
Wojciech Wieczorek | 199 |
Artur Hajnicz | 203 |
Ludwig Mehlhorn | 208 |
Timothy Garton Ash | 215 |
Diskussion | 218 |
Vorsitzender Rainer Eppelmann: Am gestrigen Tag haben wir uns zunächst
besonders mit dem Berlin-Problem und den internationalen Rahmenbedin-
gungen der Deutschlandpolitik in der Zeit von 1949 bis 1989 beschäftigt.
Heute arbeiten wir an der gleichen Thematik weiter, wählen aber eine andere
Optik. Ging es gestern vor allem um die Auswirkungen der internationalen
Politik auf die Entwicklung der Deutschlandproblematik und damit um eine
außenpolitische Betrachtungsweise, so werden wir uns heute mit Vorgängen
außerhalb Deutschlands beschäftigen, die neben allen gesamteuropäischen
Folgen auch wesentlichen Einfluß auf die innenpolitischen Verhältnisse in
Deutschland gewannen.
Der Prager Frühling des Jahres 1968 und sein Ende durch die Intervention
der Truppen des Warschauer Paktes in der CSSR ist auch vielen in diesem
Saal – so vermute ich – noch in lebendiger Erinnerung. Was Alexander Dubcek
und andere damals erreichen wollten, den Sozialismus mit menschlichem
Antlitz, erschien uns in der DDR als eine kühne Utopie. Mit größter Spannung
hörten wir die Sendungen von Radio Prag, in denen davon berichtet wurde,
wie die Tschechen und Slowaken darangingen, diesen Traum in die Realität
umzusetzen. Die Zeitschrift „Im Herzen Europas“, die in Prag gedruckt
wurde und zunächst auch noch in der DDR verbreitet werden konnte,
vermittelte uns weitere Eindrücke von der lebendigen Diskussion, an der
breiteste Kreise der Gesellschaft unter Führung der Intellektuellen in unserem
Nachbarland beteiligt waren. Selbst die Zeitschrift der Prager Allchristlichen
Friedenskonferenz, die bis dahin ein regimetreues Winkelblättchen gewesen
war, gewann damals Farbe und Leben.
Um so größer war das Entsetzen, als das mit militärischen Machtmitteln
zerstört wurde, was da mit friedlichen Mitteln in der Tschechoslowakei schon
erreicht worden war. Als auch die letzten der illegalen Sender verstummt
waren und die Emigranten aus der CSSR in ihren westlichen Zufluchtsor-
ten Einzelheiten darüber zu berichten begannen, wie die kommunistischen
Machthaber den Sozialismus mit menschlichem Antlitz ausgelöscht hatten,
verbreiteten sich bald Verbitterung und Resignation auch in der DDR.
Die vielfältigen Proteste gegen die Beendigung des Prager Frühlings, die
es auch in der DDR gegeben hatte, verstummten bald. Wenn sich die
SED-Machthaber insoweit auch bald wieder sicher glauben konnten, so
lernten die Menschen in der DDR durch die Prager Ereignisse doch eine
Lektion, die sie auch in der Wende des Jahres 1989 noch beherzigten:
Jede grundlegende Veränderung der politischen Machtverhältnisse in einem
Staat des östlichen Machtblocks mußte im Zusammenhang der politischen
Entwicklung im gesamten östlichen Machtbereich geplant und durchgeführt
werden.
Seit dem Jahr 1968 lernten die DDR-Bürger, in ihrem ummauerten Land
wieder international zu denken. Sie hatten erlebt, was ein freier Austausch der